Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  März 2005


War das alles?

Ernas Hand tastet nach der Krücke.
Sie schob sich langsam aus dem Bett heraus.
Ihr linkes Bein war von oben bis unten geschient.
Sie zog sich den Schlafrock an.
Verlagerte dabei das Gewicht auf das rechte Bein.
Das Knie schmerzte.
Es war die große Belastung nicht gewohnt.
Mühselig bewegte sie sich zur Küche.
Ihr linkes Bein schmerzte stark.
Gleichzeitig schien es so, als würde es nicht ihr gehören.
Es gehorchte nicht mehr.
Ihre Enkel spielten im Garten.
Das Schreien und Lachen der Kinder entlockte ihr ein müdes Lächeln.
Sie holte ein Glas aus der Anrichte.
Ließ kaltes Wasser vom Wasserhahn hineinlaufen.
Sie trank das halbe Glas leer.
Stellte es wieder hin.
Blickte wehmütig aus dem offenen Küchenfenster.
Der Sommerwind spielte mit den Vorhängen.

Sommer…
Erinnerungen.
Als sie Georg kennen gelernt hatte.
Georg, den Bauernsohn.
Wie alt war sie damals gewesen?
Achtzehn?
Oder schon Neunzehn?
Sie wusste es nicht mehr.
Aber geheiratet hatte sie ihn.
Ein halbes Jahr später.
Weil ein Kind unterwegs war.
Und was hätte sie sonst tun sollen?
Damals nach dem Krieg?
Ohne Ausbildung?
Weiter auf dem Hof der Eltern arbeiten?
Für Kost und Logis?
Bitterkeit stieg in Erna auf.
Bitterkeit und kalter Hass.
Für sie hatte es keine richtige Mitgift gegeben.
Genau wie für ihre Schwestern.
Ihr Vater wollte alles für den einzigen Sohn zusammenhalten.
Aber der und seine Frau hatten nie Kinder.
Und jetzt gehörte der Hof dem Neffen der Schwägerin.
Und seiner Frau.

Georg.
Er war ihr nie ein guter Mann gewesen.
Schlug sie ständig.
Im Suff.
Oder wenn er zornig war.
Und das war er oft.
Einmal verlor sie ein Kind deswegen.
Selber fuhr er in die VÖEST zum Arbeiten.
Sie durfte den Hof bewirtschaften.
Oft 16 Stunden am Tag und länger.
Es war ihm egal wie es ihr ging.
Solange sie nur arbeitete.
Und ihre ehelichen Pflichten erfüllte…
Tränen standen in Ernas Augen.
Er war nie lieb zu ihr gewesen.
Niemals…
Und der ältere Sohn war genauso wie er.
Kalt.
Und hart.
Lieblos.
Keine Frau blieb bei ihm.
Nie lange.
Heutzutage ließen sich das die Frauen nicht mehr gefallen.
Sie selber hatte es nicht besser gewusst…

Katherina, ihre Schwester.
Wie sie der reichen Erbtante Theres immer nachgelaufen war.
Stets bemüht.
Fast ergeben.
Theres dies.
Theres das.
Dabei war es ihr nur um deren Geld gegangen.
Und um das große Haus.
Es stand fast leer.
Theres und ihr Mann hatten auch nie Kinder gehabt.
Sie starb überraschend bei einer Seniorenfeier.
Ein Schlaganfall.
Das Testament bestimmte Kathi zur alleinigen Erbin.
Die wurde auf einen Schlag eine reiche Frau.
Sehr reich.
Und ihr Sohn zog in das große Haus.
Erna ballte die Fäuste.
Die Knöchel wurden weiß.
Die alte Wut stieg in ihr auf…
Sie hätte das Geld auch gut brauchen können.
Zumindest einen Teil davon.
Sich einmal etwas leisten…
Ihr wurde schwindlig.
Erna griff nach der Krücke.
Griff ins Leere.
Stürzte zu Boden…

Erna war halb benommen.
Sie lag wieder im Bett.
Ohne zu wissen, wie sie hineingekommen war.
Liesl, ihre Tochter, saß neben dem Bett.
Du solltest doch nicht aufstehen.
Du hättest mich nur rufen brauchen.
Ich wäre sofort gekommen.
Du, weißt doch, wie krank du bist.
Ihre Stimme klang vorwurfsvoll.
Aber auch voller Sorge.
Erna schloss die Augen.
Sie fühlte nur die Schmerzen im Bein.
Schmerzen, die sie seit Jahren gequält hatten.
Ihre Gedanken begehrten auf.
Wen kümmert es wenn ich falle?
Ich werde ohnedies bald sterben!!!
Sehr bald.

Erna war wegen der Schmerzen ins Spital gekommen.
Vor drei Monaten.
Um ein künstliches Hüftgelenk  zu bekommen.
Hatte sie geglaubt.
Stattdessen wurden lauter Untersuchungen angesetzt.
Die Wahrheit schmerzte mehr als alle Schläge Georgs.
Krebs.
In der Brust.
Metastasen im Hüftgelenk.
Und im Oberschenkel…
Das war also ihr Leben gewesen.
Arbeit über Arbeit.
Kein Urlaub.
Kein liebes Wort.
Nie etwas für sich selbst.
Keine Zeit etwas zu genießen.
Oder sich am Leben zu freuen.
An den einfachen Dingen.
Fünf Kinder.
Sieben Enkel.
Und doch nie geliebt…

Vivienne

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