DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne – November 2002
…weil’s „nur“ Mädchen waren…
Die Wahl ist geschlagen, Wolfgang Schüssel hat die Nase vorne und einer Neuauflage der schwarzblauen Koalition dürfte trotz des Wahldebakels des rechten Koalitionspartners FPÖ nichts mehr im Wege stehen. Soll wohl so sein, und Österreich hat wohl genau den Kanzler gewählt, den es verdient hat. Damit ich mich nicht ärgern muss (meine politische Gesinnung ist den meisten von Ihnen wohl nicht ganz fremd), will ich hier aber keine Wahlanalyse zu Papier bringen, das überlasse ich anderen, sondern wieder einmal in Viviennes Welt eintauchen und mich einem konträren Thema widmen. Nämlich dem, wenn ein Vater es nicht verwinden kann, dass ihm statt des erhofften Sohnes nur Mädchen geboren werden. Eine wahre Geschichte übrigens, und wenn Ihnen die Wahlberichterstattung zu viel wird, sind Sie hier an der richtigen Stelle.
Wer heiratet, will auch Kinder haben, das galt vor dreißig Jahren noch viel mehr als jetzt. Der Mutter-Kind-Pass, der unter der sozialistischen Alleinregierung unter Bruno Kreisky Anfang der 70er Jahre eingeführt wurde, hat seither die Säuglingssterblichkeit in Österreich dank der medizinischen Vorsorge auf ein Minimum reduziert. Wer selber Kinder geboren hat, kennt das Gefühl nur zu gut, wenn man nach den Strapazen der Geburt jene Gewissheit genießen kann: mein Kind ist gesund! Leider reicht das in manchen Beziehungen nicht, dass der kleine Erdenbürger wohlgestaltet und ohne gesundheitliche Einschränkungen geboren wird.
Vor allem Väter sehnen und sehnten sich nach einem Stammhalter, obwohl die wenigsten von ihnen heute noch ein Königreich zu vergeben haben. Warum das so ist, mag vielfältige Gründe haben, Gründe, die wahrscheinlich dem Vater selbst nicht wirklich bewusst sein dürften. Aber es ist denkbar unfair gegenüber der kleinen Tochter, die weniger geliebt wird als fünftes Rad am Wagen und somit völlig unschuldig einen denkbar schlechten Start ins Leben hat. Ich möchte Ihnen heute so eine Geschichte von einem Mann erzählen, der im Grunde alles hatte in seinem Leben, aber seinen Töchtern keine Liebe schenken wollte, weil sie nicht das richtige Geschlecht hatten und staunen Sie mit mir, warum ein Mann allen Ernstes seinen Kindern die Zuneigung verweigert…
Herr und Frau Schneider aus unserer Siedlung galten lange als ein unauffälliges Paar. Meine jüngern Geschwister gingen mit den ältesten Töchtern der beiden in die Schule. Dass es in der Familie ein Problem war, dass kein Sohn geboren worden war, wurde uns lange Zeit nicht bewusst. Doch Herr Schneider hatte keinen sehnlicheren Wunsch als einen Sohn und ließ das seine beiden Töchter immer wieder spüren. Als auch das drittgeborene Kind ein Mädchen war, tauchten zum ersten Mal Gerüchte auf, dass Herr Schneider seine große Enttäuschung im Alkohol ertränkt hatte und mit einem ziemlichen Rausch nach Hause gekommen war. Seine Frau und die jüngste Tochter wollte er erst gar nicht in der Klinik besuchen…
In der Folge hörte man immer öfter von Streitigkeiten des Ehepaares. Herr Schneider machte seiner Frau immer wieder Vorwürfe, dass sie nicht in der Lage wäre, einen Sohn zur Welt zu bringen, und immer öfter tat er das in alkoholisiertem Zustand. Die Arbeitskollegen des Herrn Schneider, der im Baugewerbe arbeitete, hänselten ihn, ja, sie zogen ihn, die sie genau wussten, wie empfindlich er bei diesem Punkt war, nach Strich und Faden auf. Was für die Ehe der Schneiders nicht gerade förderlich war. Wenn immer ich Frau Schneider zu dieser Zeit sah, blickte ich in die Augen einer verhärmten Frau, die vielleicht einmal hübsch gewesen war, die jetzt aber nur mehr blass aussah und zutiefst unglücklich war.
Schnell erfuhren wir von der vierten Schwangerschaft von Frau Schneider. Die Schneiders hatten zu bauen begonnen, die große Familie brauchte ja auch Platz, und Herr Schneider ließ keinen Zweifel daran, dass sein Sohn einmal dieses Haus erben sollte. Dass sagte er jedem, der es wissen wollte, vor allem im Wirtshaus, am Stammtisch. Wofür ihn die Sekkierer dort wieder ordentlich durch den Kakao zogen und ihm versicherten, dass es zu 100 Prozent wieder ein Mädchen werden würde. Ich weiß auch nicht warum, aber sie sollten Recht behalten. Ein paar Laute konnte ihre Schadenfreude kaum noch verhehlen, wobei man sich fragen muss, wo da eigentlich der Schaden war, wenn Frau Schneider ein weiteres pumperlgesundes Kind zur Welt brachte, das hübsch aussah und gerade Glieder hatte. Was ja heute nicht immer so selbstverständlich ist. Aber Herr Schneider tobte, soff sich im Wirtshaus nieder, prügelte in der Folge seine Frau wie die Töchter immer wieder, und war daheim öfter betrunken als nüchtern anzutreffen.
Das große Leid, das ihm seine Frau zufügte, indem sie ihm eine Tochter nach der anderen gebar, war ja eine bequeme Ausrede, sich immer öfter dem Suff zu ergeben. In der Zeit Herr Schneider war oft auf Montage, da er wegen des Hausbaus Geld brauchte passierte Herrn Schneider in alkoholisiertem Zustand auf der Baustelle ein schwerer Unfall. Nicht nur, dass er selbst wochenlang im Spital lag, seine Firma machte ihn haftbar für den verursachten Schaden, den er ersetzen musste. Da war es praktisch, dass die beiden ältesten Töchter schon in eine Lehre gingen: Herr Schneider nahm ihnen an jedem Monatsersten jeden Groschen ihrer Lehrlingsentschädigung weg. Die beiden Mädchen wagten nicht zu protestieren, da sie ihren Vater fürchteten. Meiner Schwester Beatrice vertraute sich eines der Mädel einmal an, das von ihrer ständigen Angst erzählte, den Vorwürfen und den großen Streitereien daheim, wenn der Vater wieder betrunken war.
Die beiden Mädchen zogen schnell von daheim aus, aber das Geld, das ihnen ihr Vater genommen hatte, sahen sie trotzdem nie wieder. Inzwischen hatte Herr Schneider seine Schulden bezahlt, und Frau Schneider war zum 5. Mal schwanger. Fast zum Hohn, muss man schon sagen, brachte sie aber wieder ein Mädchen zur Welt, was für das familiäre Klima bei den Schneiders nur abträglich war. Herr Schneider wollte so verbissen einen Sohn haben, dass er das Glück, das er genießen durfte, gesunde Kinder zu haben, nicht schätzte. Seine beiden ältesten Kinder mieden ihn, ließen sich daheim nicht mehr sehen, die jüngeren Töchter haben ihn nie als liebenden Vater gekannt, weil sie nicht das richtige Geschlecht hatten.
Dabei konnte Herr Schneider durchaus umgänglich und hilfsbereit sein, wenn er wollte. Ich kam einmal bei Regen nach der Arbeit bei uns am Bahnhof an. Es war saukalt, als ich aus dem Zug ausstieg, und ich hatte keinen Schirm dabei. Herr Schneider wartete am Bahnhof auf eine seiner Töchter, die er vom Zug abholen wollte, die sich aber verspätetet haben musste. Kurzerhand, und weil der Weg fast derselbe war, brachte mich Herr Schneider ohne viel Federlesens heim. Ich roch zwar als ich neben ihm saß, dass er etwas getrunken haben musste, aber er war freundlich und umgänglich. Schade, dass er dem Geschlecht seiner Kinder so viel Bedeutung beimaß er hätte durchaus ein liebenswerter Familienvater sein können. Aber was er an seinen Kindern falsch gemacht hatte, konnte er nicht mehr gut machen.
Und vor allem auch das, was er seiner Frau in mehr als zwanzig Ehejahren angetan hatte: die Prügel, die Vorwürfe, die Schuldgefühle, die er ihr eingeimpft hatte. Das letzte, was ich vor einigen Jahren von den Schneiders hörte, war, dass Frau Schneider die zerrüttete Ehe nicht mehr ertragen und sich scheiden lassen hatte. Das Haus, das beiden gehört hatte, musste deswegen verkauft werden, beide zogen weg. Man kann an dieser Stelle keinesfalls behaupten, dass Herr Schneider ein besserer Mensch geworden wäre, hätten er und seine Frau einen Sohn gehabt. Den Hang zum Wirtshaus sitzen und öfter mehr Alkohol zu trinken als ihm gut tat, hatte er sicher immer schon gehabt. Auch dass er manchmal rabiat wurde und ihm die Hand ausrutschte, bei der Frau wie bei den Kindern, ist nicht nur dadurch zu erklären, dass er ohne Stammhalter blieb.
Schlimm ist aber der andere Aspekt, wenn man bedenkt, wie viele junge Paare heutzutage ungewollt kinderlos bleiben und die über ein gesundes Kind, gleichgültig welchen Geschlechts, unendlich glücklich wären. Vielleicht ist Herr Schneider in seiner Wohnung heute einsam und er würde sich über Besuch seiner Kinder freuen, vielleicht hat er auch schon Enkelkinder, die er nie kennen gelernt hat, weil er selber alle Türen zugeworfen hat. Was Glück ist, weiß man oft erst im Nachhinein, das ist vermutlich auch Herrn Schneider schon klar geworden… Ganz sicher ist, dass sich Herr Schneider in eine fixe Idee verrannte. Je verbohrter er sie verfolgte, desto weiter entfernte sich das Ziel. Und dass das oft so ist im Leben, werden Sie selber auch schon erkannt haben: der Schmetterling fliegt weg, wenn Sie ihm auf der Wiese nachjagen, aber wenn Sie ganz ruhig stehen bleiben und abwarten, dann kommt er vielleicht von selbst und setzt sich auf Ihre Schulter.
Vivienne
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