von Vivienne – Februar 2004
Verloren…
Noch ein Bier, bitte!
Wie ein Fragezeichen steht er an der Theke.
Mittelgroß und hager.
Eigentlich ziemlich dürr.
Die Hose viel zu weit.
Sie sieht schon ziemlich abgewetzt aus.
Die Haare sind grau.
Das furchige, unrasierte Gesicht wirkt verhärmt.
Die glasigen, blauen Augen kennen keine Freude mehr.
Fast wirken sie tot.
Der Blick ist so leer.
Die helle Jacke umhüllt den dünnen Körper
Viel zu weit ist sie
Verschlissen und schmutzig hat sie schon bessere Tage gesehen.
Sieht aus, als wäre sie einmal teuer gewesen.
Einmal.
Vor ewigen Zeiten
!
Noch ein Bier, bitte!
Die Zunge stolpert leicht, als der Mann seinen Wunsch wiederholt.
Der schmallippige Mund formt die Worte fast tonlos.
Sehr leise.
Der breitschultrige Wirt dreht sich um.
Du hast genug, geh heim!
Der Mann schüttelt den Kopf.
Bitte noch
Die Zunge gehorcht ihm nicht mehr.
Der Rest des Satzes geht in unverständlichem Gemurmel unter.
Krampfhaft hält sich der Mann an der Bar fest.
Der Schwindel geht wieder vorüber.
In einer hektischen Bewegung zieht er sich die Hose hoch, die zu rutschen droht.
Er öffnet den Mund um zu reden
Geh nach Hause.
Der Wirt lässt nicht mit sich reden.
Du siehst doch, dass du genug hast.
Bei mir kriegst du kein Bier mehr.
Siehst du das Schild?
Jugendliche und Betrunkene bekommen keinen Alkohol.
Und du bist betrunken.
Der Gast öffnet in komischer Verzweiflung seine Arme.
Ich habe Geld
Sehen Sie?
Ich zahle!
Bitte, noch ein Bier.
Eins noch
Der Wirt wird ungehalten.
Schau, dass du raus kommst!
Du vertreibst mir die Gäste.
Womöglich fängst du noch zu kotzen an.
Ich geb dir zwei Minuten!
Trink meinetwegen woanders weiter.
Der Mann an der Bar verändert seinen Gesichtsausdruck nicht.
Aber Tränen fließen über seine Wangen.
In der zitternden Hand hält er 5 Euro
Aber ich hab doch Geld
Schließlich steckt er den Schein umständlich in seine Jackentasche.
Resignation.
Unsicher stolpert er aus dem Lokal.
Draußen regnet es.
Der Mann hüllt sich in seine Jacke.
Schnell ist sie grau wegen der Nässe.
Der Mann spürt die Kälte nicht.
Schwankend geht er die Straße weiter.
Planlos, ohne ein Ziel vor Augen.
Geh heim.
So sagte der Wirt.
Die Straße wird rutschig.
Unsicher setzt der Mann seinen Schritt.
Ein größerer Kieselstein lässt ihn den Halt verlieren.
Der Mann versucht zu schreien.
Da liegt er schon am Boden.
Rollt schnell in den Strassengraben.
Schlägt hart auf.
Ein Schmerz durchzuckt den ausgemergelten Körper.
Dunkelheit.
Der Regen fällt weiter.
Die Tropfen werden größer.
Eine kalte Nacht.
Am nächsten Morgen findet ein Rentner den Mann.
Beim Spazierengehen.
Sein Hund stöbert den steifen Körper auf.
Polizei und Arzt fahren vor.
Zwei Männer tragen den Mann zugedeckt über die Straße.
Wer ist das überhaupt?
Keine Ahnung.
Ein Trinker.
Sieht man doch.
Den Sturz hätte er sicher überlebt.
Der Mann ist halt keinem abgegangen.
Achselzucken.
Mehr als tot.
Verloren
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