Vor einigen Tagen telefonierte ich wieder mit daheim, einfach um nachzufragen, wie es den Eltern ging, ob alles in Ordnung war oder ob sie etwas brauchten. Dabei erfuhr ich die große Neuigkeit: Vor ein paar Tagen war ja schon in der Zeitung nachzulesen gewesen, dass ein Fünfzehnjähriger aus dem Bezirk seinen Freund mit dem Auto seines Vaters heimbringen hatte wollen. Dabei hatte der Teenager einige Verkehrsregeln nicht beachtet und die Polizei war schnell aufmerksam auf ihn geworden. Schließlich hatte der Bursch ein Stoppschild überfahren und wollte über ein abgeerntetes Feld der Exekutive entkommen. Dabei war aber der Wagen umgekippt: den beiden Burschen war nichts passiert, aber das Auto, ein BMW, war völlig kaputt gewesen…
Tja, davon hatte ich also selber gelesen, was ich aber nicht ahnte war, dass ich den jungen Möchte-gern-Autofahrer sogar persönlich kannte: Herbert Moser war der Bursche, Sohn unseres früheren Spielgefährten Sepp Moser. Sepps Eltern waren eigentlich gebürtige Linzer gewesen, die zunächst allein und dann mit Hilfe des Sohnes und der Schwiegertochter ein gemeinsames wie großes und geräumiges Wochenendhaus hier in unserer Gemeinde errichtet hatten. Als die Eltern starben und Sepp und seiner Frau das große Haus geblieben war, beschlossen sie, Linz endgültig den Rücken zu kehren. Gemeinsam hatten sie ein einziges Kind, Herbert, und da Sepps Mutter bald wieder arbeiten ging, musste der Bub früh in den Kindergarten und in den Hort…
Nachdenklich schaltete ich das Handy nach dem Telefonat mit meiner Mutter aus. Ich musste wieder an den Buben denken, der immer ein Einzelgänger gewesen war und sich damals schon viel öfter mit Erwachsenen als mit Gleichaltrigen beschäftigte. Oft hatte er ganz unkompliziert mit mir zu plaudern begonnen, wenn ich ihn auf dem Heimweg von der Arbeit traf und später dann, wenn ich auf Besuch bei den Eltern war. Und seine dunklen, traurigen Augen trafen mich, die ich nie ein Kind gehabt hatte, jedes Mal wieder. Ich erfuhr viel von dem Burschen, viel mehr, als er eigentlich ahnte. Seine Eltern schoben ihn am liebsten in den Hort ab, der eigenen Karriere wegen weigerte sich seine Mutter, auch nur für ein paar Jahre Teilzeit zu arbeiten – sie wollte auf ein luxuriöses Heim und All-inclusive-Urlaube nicht verzichten, genau so wenig wie ihr Mann, und darum setzten sie auch alle Hebel der Welt in Bewebung, ihren einzigen Sohn im Hort der Nachbargemeinde unterzubringen.
Ich setzte mich in die Küche und starrte vor mich hin. Mir kam wieder eine Szene vor ein paar Jahren in Erinnerung, damals hatte mir Klein-Herbert mir erzählt, was er gerne von Beruf werden würde. „Ich möchte Vermessungstechniker werden, genau wie mein Papa!“ Sein tieftrauriger Blick und die die große, unerwiderte Liebe zu seinem Vater taten mir fast körperlich weh. Der junge Bursch hätte sich wirklich etwas liebevollere Eltern verdient, Menschen, die ihm mehr Aufmerksamkeit zu schenken bereit waren und vor allem auch Liebe. Wirkliche Liebe. Und nicht nur teure Geschenke und Markenkleidung – aber besonders auch viel Schelte, wenn er nicht funktionierte, wie er sollte. Ja, Herbert, sollte immer funktionieren, unkompliziert und ohne Pannen, denn schließlich wollten Mama und Papa nicht auf ihr angenehmes Leben in der Freizeit verzichten…
Ich erinnerte mich wieder. Sepp selber war auch ein Schlüsselkind gewesen. Seine Mutter hatte den Vater vor über dreißig Jahren für einige Zeit einmal verlassen, fast drei Jahre hatte sie mit einem Liebhaber gelebt, bis sie nicht reumütig aber doch wieder zu Mann und Sohn zurückgekehrt war. In der Zwischenzeit hatte Sepp bei seinen Großeltern gelebt, sein Vater hatte wenig Lust gezeigt, sich über Gebühr um den Buben zu kümmern – „weil das nicht meine Aufgabe ist!“ Auch die Versöhnung mit seiner Ex-Frau rang ihm nicht mehr Begeisterung für das einzige Kind ab und, was ich vermute, zur Mutter fehlte Herbert nach der langen Zeit einfach der Bezug. Ich schüttelte den Kopf. Nein, dass Sepp das nie begriffen hatte, dass er und seine Frau seinem Sohn fast dasselbe antaten, wie seine Eltern ihm…
Plötzlich hatte ich die Stimme meiner Mutter wieder im Ohr, wie sie mir die Geschichte von Herberts Verkehrsunfall fertig erzählte. „…stell dir vor, Vivi, der Moser Sepp und seine Frau waren auf Urlaub gefahren, die haben den Buben allein daheim gelassen und niemanden von den Nachbarn gefragt, ob er oder sie sich vielleicht kümmert um den Herbert. Du weißt schon, eine warme Mahlzeit am Tag, Wäsche waschen, einfach schauen, ob es dem Buben gut geht. Und der Autoschlüssel ist sogar noch im BMW vom Sepp gesteckt, gib dir das! Der Bub brauchte nur umdrehen und starten. Ein Wunder, dass nicht mehr passiert ist, aber der Bub wird es so oder so ausbaden müssen, obwohl seine Eltern alle Schuld der Welt trifft!“
© Vivienne