Was wäre das Leben ohne die Liebe? Es wäre einfacher, ganz sicher sogar, vielleicht ein wenig unkomplizierter aber im Grunde auch farblos und leer. Mit einem Wort: die Liebe erst macht unser Leben aus und gibt ihm seinen wahren, tieferen Sinn. Bisweilen dauert es allerdings lange, bis man in der Liebe seine Bestimmung findet, aber manchmal geht unerwartet eine Tür auf und lässt jenen Menschen in unser Leben eintreten, auf den wir ein ganzes Leben gewartet haben. Und dafür ist es nie zu spät…
Was Carola Derflinger aus einer unserer Nachbargemeinden betraf, war ihr Leben immer vorbestimmt gewesen. Mit Achtzehn schon musste die Unternehmertochter heiraten, den Sohn eines Geschäftspartners der Eltern, und in ihrem Pflichtbewusstsein weigerte sie sich nicht nur nicht: Sie verschwieg sogar, dass sie ein halbes Jahr eine heimliche Liebesbeziehung geführt hatte, zu einem Studenten, der kein eigenes Geld hatte und ihrem Vater nur unpassend oder ungeeignet für eine Beziehung erschienen wäre. Ein gutes Jahr nach der etwas unfreiwilligen Hochzeit wurde der erhoffte Stammhalter geboren und Carola Derflinger durfte froh darüber sein, dass sie im Unternehmen des Schwiegervaters halbtags arbeiten durfte, als der Bub groß genug geworden war, um den Kindergarten zu besuchen.
Carola war nie auf den Gedanken gekommen sich dem Willen ihrer Eltern und im Besonderen dem ihres Vaters zu widersetzen. Ihr ganzes Leben war vorbestimmt gewesen – von den ungewollten Ballettstunden in Linz bis hin zum Besuch der Handelsakademie „…weil die Kleine eh bald heiraten wird, und da braucht sie ohnehin kein Studium…“ Wenn man Carola so sah, wäre man nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie unglücklich wäre. Das lag aber vorrangig daran, dass sich Carola nie anmerken ließ, was sie dachte und fühlte, was aber die wenigsten ahnten. So wie ich das sah, hatte sich die Frau von Jugend an verschiedene Masken zugelegt, die sie bei Bedarf anlegte. Auch zum Eigenschutz, wie ich mir dachte. Ich gehörte nicht dem selben Gesellschaftskreis wie die nobel geborene Carola Derflinger an, aber bei den wenigen Begegnungen hatte ich immer den Eindruck gewonnen, dass ich mich gut mit ihr verstanden hätte – wenn es sich ergeben hätte…
Carolas Sohn wuchs heran, war erfolgreich in der Schule und schlitterte unversehens in die Pubertät. Die Zeit war wie im Fluge vergangen, Carola war noch immer eine sehr attraktive Frau, als sich vor ein paar Jahren wie ein Lauffeuer die Nachricht bei uns verbreitete, dass Carola durchgebrannt war. Allein der Gedanke daran war unvorstellbar, immerhin war Carola eine Frau von bald vierzig Jahren, aber die Neuigkeiten trafen ausnahmsweise völlig zu. Aber nur nach und nach erfuhr man, was eigentlich hinter dieser Flucht steckte. Carola hatte nämlich in Linz kurioserweise bei einem Arztbesuch ihre frühere Jugendliebe wieder getroffen, und auch wenn es banal klingt: die alten Gefühle waren zwischen den beiden schnell wieder aufgeflackert. Carolas Ex-Liebhaber selber war schon länger geschieden, und auch wenn es schwer vorstellbar scheint, muss in Carola zum ersten Mal in ihrem Leben der Wille zum Ausbruch gereift sein.
Zum Ausbruch aus einem Gefängnis, einer Ehe mit einem ungeliebten Mann, an dem ihr nicht viel lag. Carola hat ihre Flucht damals sorgfältig geplant aber nichts über den Damm gebrochen. Als ihr Mann geschäftlich einige Tage im Ausland zu tun hatte, packte sie ihre Koffer und verschwand zu ihrem Geliebten im Großraum Linz. Die Empörung in der Familie war enorm, zuerst wurde Carola ein Ultimatum gestellt, dann meinte ihr Noch-Ehemann, er wäre sich sicher, dass Carola bald wieder zurückkommen würde. Immerhin, so betonte er, könnte sein Rivale seiner Frau nichts bieten – außer einer kleinen Wohnung und einem bescheidenen Einkommen. Carola werde das irgendwann einmal realisieren und die Konsequenzen ziehen, das heißt: wieder zu ihm zurückkehren…
Der Mann sollte sich aber irren, und das gewaltig. Innerhalb eines Jahres wurde die Ehe geschieden – Carolas Ex zog seinerseits die Konsequenzen, weil Carola von ihrem alten und neuen Liebhaber schwanger geworden war. Angesichts dessen war ihm wohl bewusst geworden, dass er völlig falsch gelegen war. Mehr als das, es handelte sich im Fall des verspäteten Paares wirklich um Liebe. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sich Carola auf die Füße gestellt, weil sie den Rest ihres Lebens nicht wieder über sich hinweg bestimmt sehen wollte. Spät hatte sie die Bremsen gezogen in einem Leben, das ihr fast schon entglitten war, aber eben doch nicht zu spät. Auch wenn sich an ihrer Entscheidung die Geister schieden und scheiden: meiner Meinung hat sie das Richtige getan. Das einzig Richtige!
© Vivienne