Wie erinnern Sie sich an Ihre Schulzeit? Mit Bauchweh oder mit leiser Wehmut? Meine Pflichtschuljahre sind mittlerweile längst Schnee von gestern, sie liegen fast fünfundzwanzig Jahre zurück. Und so mancher einstmals gefürchteter „Fachlehrer“ der damaligen Generation hat seinen Schrecken für mich völlig verloren. Ein ganz besonderer Drachen in meiner Hauptschulzeit war die gestrenge Mathematiklehrerin Frau Fichtinger. Ledig wie bissig, war die ziemlich korpulente Frau unter den Schülern nicht besonders beliebt. Riss man über den einen oder anderen Lehrer zumindest heimlich und hinter vorgehaltener Hand dumme Witze, bei Frau Fichtinger verhielten sich die Hauptschüler immer etwas vorsichtiger.
Und das hatte seine Gründe: Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie sie einem Mitschüler von mir, Erich Wanninger, eine Ohrfeige androhte, weil er es gewagt hatte, die Mathematikhausaufgabe in der Pause vor der Stunde abzuschreiben und sie ihn dabei erwischt hatte. Mit einer Lawine an bitterbösen Worten und Beschimpfungen machte sie den armen Erich neben uns ganz klein, dann sah sie zumindest von der „Watschn“ ab, die er sich von ihr nach der Predigt noch holen hätte sollen. Als brave Schülerin und gute Kopfrechnerin stand ich grundsätzlich recht gut bei Frau Fichtinger, aber bei zwei oder drei Gelegenheiten bekam auch ich verbal eine auf die Mütze. So geschehen in den 70er Jahren, als die Lehrer noch eine fast absolute Macht in den Klassenzimmern ausübten und Pädagogen vom Schlage einer Fichtinger das auch weidlich ausnutzten. Ihr Wort war Befehl, und wehe dem Schüler, der da Einwände hatte!
Als Schülerin fragte ich mich oft, warum die Frau Fichtinger, die sich mir gegenüber meistens sehr nett verhielt, an manchen Tagen wiederum über die Klasse hinweg fegte wie ein Tornado. Heute sehe ich den Grund dafür in ihrer Beziehungs- und Kinderlosigkeit und in dem Verhaften in alten, überholten Moralregeln. Ob Frau Fichtinger jemals einen Freund hatte, weiß ich nicht sicher. Eine alte wie abenteuerliche Episode kursierte allerdings um die Mathematiklehrerin: ihr Freund wäre drei Tage vor der Hochzeit tödlich verunglückt und hätte sie schwanger und fast mittellos zurückgelassen. Das gemeinsame Kind soll dann tragischerweise auch noch tot geboren worden sein. Wie gesagt, eine uralte Geschichte, die in einigen Bereichen sehr unrealistisch anmutet, denn selbst so ein Schicksalsschlag sollte normalerweise kein Grund sein, sein weiteres Leben völlig allein zu verbringen.
Aber wie auch immer. Frau Fichtinger war etwa so alt wie ich heute, als ich in die Hauptschule kam und ihr Nymbus als – wenig respektlos formuliert – bissiger Drache reichte bis weit in die Nachbargemeinden hinein. Frau Fichtinger galt als Sinnbild wenn nicht als Schutzheilige von Moral und Tugend und wusste sich – im Gegensatz zu manchen Lehrern heutzutage – den gebührenden Respekt zu verschaffen. Zumindest in den 70er Jahren, ihr Standbild geriet aber gehörig ins Wanken, als mit den 80er Jahren eine neue Generation von Schülern heranwuchs: frech, ungehorsam und hungrig nach den ersten sexuellen Erfahrungen, was Frau Fichtinger nachweislich ganz besonders ein Dorn im Auge war. Zwar scharte sie wie auch zu meiner Zeit die Mädels um sich – für Burschen hatte sie nie so viel übrig – um ihre überholten Moralpredigten zu halten, aber der Kern der Aussage griff nicht mehr richtig.
Ganz im Gegenteil, denn immer öfter passierte es, dass eines der Mädchen, um das sie sich besonders bemühte, ihre Thesen in den Wind schlug. Oder im wahrsten Sinn des Wortes auf den Punkt gebracht: die Mädchen wurden schwanger, eines nach dem anderen und der Gesichtsausdruck der Frau Fichtinger veränderte sich von nachdenklich zu betroffen. Nur so nebenbei musste sie zur Kenntnis nehmen, dass auch die anderen Schüler immer vorlauter wurden und sich mit Strafen oder Dableiben kaum mehr ein Hauptschüler einschüchtern ließ. Die tollen 70er Jahre waren vorbei und in den 80er Jahren wurde auf Moral, Ehrbarkeit und Enthaltsamkeit nicht mehr so viel wert gelegt. Die jungen Leute hatten außerdem viel Spaß daran ihre eigene Sexualität und das andere Geschlecht zu entdecken was ihnen im Grunde auch niemand verübelte, außer Frau Fichtinger, die nicht nur mir wie ein Relikt aus einer alten Zeit erschien und die nicht mehr bedrohlich sondern fast lächerlich wirkte mit ihren überholten Werten und dem Beharren auf Tugendhaftigkeit…
© Vivienne