Gudrun Pausewang ist mit ‚Die Wolke’ Ende der 80er-Jahre ein sehr kritisches und aufrüttelndes Buch zum Thema Atomkraft gelungen. Gott sei Dank handelt es sich nicht um eine wahre Begebenheit, es ist aber so geschildert, dass es durchaus realistisch wirkt. Möge man zum Thema Atomkraft denken, wie man will – Fakt bleibt die große Gefahr, mit der wir hier zu tun haben. Denn wenn es zu einem Unglück kommt – und mag das Risiko noch so (angeblich) gering sein – dann geht es nicht um ein Menschenleben oder 5, sondern 100.000e, und noch um die Gesundheit und die Existenz zahlreicher Unschuldiger, die entweder ‚nichts wussten’ oder nichts wissen wollten oder glaubten, ohnehin nichts dagegen tun zu können.
Der Roman spielt in Deutschland. Die 14-jährige Schülerin Janna-Berta ist, wie auch die anderen, aus allen Wolken, als am späten Vormittag in der Schule ABC-Alarm gegeben wird und alle heimgeschickt werden. Es fährt kein Schulbus, alles will gleichzeitig telefonieren. Lehrer und ältere Schüler hasten rücksichtslos davon.
Janna-Berta hat das Glück, von einem älteren Schüler, der in ihrer Nachbarschaft wohnt, mit dem Auto mitgenommen zu werden. Zu ihrem Unglück sind ausgerechnet heute ihre Eltern samt Bruder im Babyalter für 2 Tage weg, und zwar ausgerechnet im engeren Umfeld des Kraftwerkes. Und sie ist allein für ihren 8-jährigen Bruder verantwortlich.
Zu Hause stellt sich die Frage, in den Keller gehen, was die Polizei verlangt, oder abhauen, was alle anderen tun. Doch die Bevölkerung vermutet eher, dass der Polizei bei dieser Anordnung nicht das Wohl der Bürger am Herzen liegt, sondern Massenpanik und Verkehrschaos verhindert werden sollen. Schließlich flüchten so gut wie alle, und es kommt wie befürchtet.
Obwohl sich die Geschwister zuerst im Keller verbarrikadieren wollen, erreicht sie noch ein kurzer Anruf von ihrer Mutter, die dem Mädchen aufträgt, sich zum Bahnhof durchzuschlagen. Die Gelegenheit, mit Nachbarn mitzufahren, ist aber zu diesem Zeitpunkt schon wortwörtlich abgefahren, und so beschließt das alleingelassene Mädchen, sich mit ihrem Bruder per Fahrrad wie geheißen auf den Weg zu machen.
Was hier so dramatisch und eindrucksvoll beschrieben wird, ist das Chaos auf der Straße auf der Flucht vor der radioaktiven Wolke. Staus, Unfälle, Rücksichtslosigkeit, Egoismus in reinster Form, Habgier, Unfälle, Schießereien, die Polizei wird überwältigt, keiner hält sich an deren Anordnungen. Jeder versucht nur seine eigene Haut zu retten und ist dabei gerne bereit, über Leichen zu gehen, wenn ihn das ein paar Zentimeter vorwärts bringt auf seiner Flucht.
Um einer Schießerei zu entkommen, nimmt Janna-Berta anstatt der verstopften Straßen einen Feldweg, und schließlich erlebt sie das erste große Trauma: ihr Bruder wird vor ihren Augen nach dem Überqueren des Bahndamms auf einem Feldweg überfahren. Wie in Trance spielt sich die Zeit nachher ab, sie vergisst nicht, wie der tote Junge von einem Autofahrer in ein Rapsfeld getragen wird, damit die Autokolonne wieder fahren kann, während sich eine Familie mit 3 Kindern ihrer annimmt.
Das Chaos auf dem Bahnhof ist nicht weniger schlimm, versperrte Tore werden eingedrückt, die Polizei greift zu Waffen ob der rasenden Menge, der der Bahnhof nicht annähernd gewachsen ist. Den Menschen ist ihr Hab und Gut wichtiger als ihr Nachbar. Als die Gruppe für kurze Zeit getrennt wird, ist Janna-Berta verantwortlich für die 3 Kleinkinder der Familie. Doch 2 davon verliert sie in der drängelnden panischen Menge. Vermutlich werden sie totgetrampelt.
Von deren Eltern dafür verantwortlich gemacht, während ihr eigener Bruder im Stich gelassen in einem Rapsfeld liegt, ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder im gefährdetsten Gebiet vermutlich schon so gut wie tot sind, ebenso die Mutter ihrer Mutter und die schwangere jüngere Schwester der Mutter, läuft das Mädchen hysterisch und nicht mehr bei Sinnen mitten in den inzwischen einsetzenden Regen auf der Suche nach dem Rapsfeld, in dem ihr Bruder liegt…
Später kommt sie in eine Art Krankenlager, wo sie lange braucht, um sich von den schlimmsten unmittelbaren Folgen der radioaktiven Verseuchung zu erholen. Als einzige Verwandte bleibt ihr nur mehr eine alleinstehende Tante in Hamburg, bei der sie eine Weile lebt. Schließlich kehrt sie zurück nach Hause, wo sie wenig später die Eltern ihres Vaters, mit denen sie früher zusammen im selben Haus gewohnt hat, trifft. Diese waren zum Zeitpunkt des Supergaus gerade in Urlaub auf Mallorca, den sie aufgrund der Umstände einfach verlängert hatten.
Wie es dieser Generation vielleicht eigen ist, verleugnen diese die geschehene Katastrophe, tun als ob ein harmloser Zwischenfall in einem Kraftwerk nur von der Presse gewaltig übertrieben worden wäre und Atomgegner absichtlich Panik verbreitet hätten. Da nimmt Janna-Berta die Mütze von ihrem kahlen Kopf und beginnt zu erzählen.
Sehr gelungen! Deprimierend, aufrüttelnd.
Wer in dem kürzlich im Fernsehen ausgestrahlten Film kaum Parallelen erkennt, der soll sich an das fesselnde Buch halten, denn die Filmindustrie hat – offenbar unfähig, den ganzen Umfang des Chaos’ und der Massenpanik einzufangen – eine Liebesgeschichte quer durch den Film hineingeschustert, und einiges wurde gegenüber dem Buch verändert oder weggelassen. Betrachtet man den Film ohne dem Buch als Hintergrund, so ist auch dieser gelungen, für zart Besaitete ist zumindest die gut endende Liebesgeschichte Balsam!
(C) Sarkastika