Eine Tasse Tee – Lillys Gedanken über den Charakter des Menschen

In nichts offenbart sich der Charakter eines Menschen deutlicher.
Als in scheinbaren Banalitäten.
Die man vielleicht schnell vergisst.
Oder kaum beachtet.
Wenn ich über die Menschen philosophiere.
Fällt mir oft eine Kollegin ein.
Vor vielen Jahren.
Ich hatte mir in der Betriebsküche eine Tasse Tee gemacht.
Zig Tassen standen im Schrank.
Ich nahm eine heraus.
Wahllos.
Goss den Teebeutel auf.
Und ging zu meinem Schreibtisch zurück.
Eine Weile später wollte ich den Tee holen.
Aber die Tasse war verschwunden.
Ich suchte eine Weile.
Schließlich klärte man mich auf.
Ich hatte die leere Tasse einer Kollegin genommen.
Ungewollt.
Sie kam später als ich in die Küche.
Und suchte ihre Tasse.
Und sie goss meinen Tee weg.
Den ich aufgebrüht hatte.
Einfach so…
Obwohl noch andere Tassen im Schrank standen…

Kein Malheur an sich.
Ich goss mir noch eine Tasse auf.
Aber ich denke bisweilen heute noch darüber nach.
Und über die Kollegin.
Sie war eine harte Frau.
Sie ließ kaum jemanden zu Wort kommen.
Fuhr über die Leute drüber.
Keine, die ich mochte.
Die Aktion mit dem Tee passte zu ihr.
Eine solche Geste ist destruktiv.
Unverständlich.
Nicht nachvollziehbar.
Finde ich.
Nicht wegen des Tees an sich.
Sondern wegen der Geisteshaltung.
Die sich daraus offenbart.
In meiner heutigen Firma kommt sowas auch ab und an vor.
Man nimmt sich das Häferl von jemand anderem.
Versehentlich.
Aber da fährt keiner drüber.
Schüttet den Kaffee weg.
Oder macht ein Spektakel deswegen.
Man hat immer die Möglichkeit.
Etwas so oder anders zu machen.
Die Kollegin hat den harten Weg gewählt.
Das ist meins.
Der Rest ist mir egal.
Man möchte nicht auf ihr Wohlwollen angewiesen sein.
Im Zweifelsfall.

Man sollte nie erwarten.
Dass die Menschen genau so handeln.
Wie man selber es tun würde.
In der gleichen Situation.
Noch eine Geschichte von mir.
Vor ein paar Jahren war ich bei einem Bekannten zu Gast.
Und vergaß ein Packerl mit einem Parfüm dort.
Natürlich wollte ich es zurück haben.
Aber den Bekannten scherte das nicht.
Er ließ sich Zeit.
Schließlich wurde ich lästig.
Wochen waren vergangen.
Ich drang darauf, mein Parfüm wieder zu bekommen.
Mit Nachdruck.
Der Bekannte konterte.
Er hätte es längst versandt.
Aber auch eine Woche nach dieser Zusicherung war es noch nicht eingelangt.
Da reichte es mir.
Ich rief den Mann an.
Er beteuerte nach wie vor seine Unschuld.
Da erklärte ich ihm.
Ich würde nachforschen lassen.
Bei der Post.
Und den Verbleib klären.
Zwei Tage später war das Packerl da.
Der Poststempel entlarvte den Mann.
Er hatte es am Tage unseres letzten Telefonates zur Post gebracht…

Heute habe ich keinen Kontakt mehr zu dem Bekanten.
Nicht wegen des Packerls.
Sondern wegen des Charakters des Mannes…
Es gibt immer ein paar Wege so eine Sache zu klären.
Gleich schicken.
Ohne viel Federlesens.
So wie ich es tun würde.
Und Sie wahrscheinlich auch!
Eine Ehrensache.
Der Bekannte sah es anders.
Ich war ihm wohl den Aufwand nicht Wert…
Egal.
Die Dinge entwickelten sich.
Wie sie kommen mussten.
Durch den Charakter des Mannes…

Vivienne/Lilly

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