Eine unvergessliche Nacht

Erwarte dir nichts, und du bekommst so viel…

Mitunter wühlt die Vergangenheit uns Menschen besonders stark auf. In diesen Tagen musste ich mich öfter an jene Zeit erinnern, als mir bewusst wurde, dass die Liebe zwischen Richard und mir tot war. Abseits der romantischen Anfänge in dem Wiener Lokal, als Richard und ich uns bei einer Schulung in Wien kennen und lieben gelernt hatten, befanden wir uns fast drei Jahre später am Ende unserer Beziehung. Richard hatte sich in eine Kollegin verliebt und die Aussprache und der Versöhnungsversuch an einem Abend gerieten zu einem Desaster.

Ich war verletzt, und ich schenkte Richard aus diesem Grund nichts. Und zu allererst forderte ich von meinem Noch-Freund, dass er besagte Kollegin nicht mehr sehen und sprechen durfte. Nicht mehr privat. Der Streit eskalierte aus diesem Grund sehr schnell. Richard stellte mich als paranoid hin und behauptete, meine Unterstellungen wären krank. Ich beendete diesen Streit auf meine Weise: ich griff zu meinem Mantel und lief aus der Wohnung. Es nieselte leicht und ich ärgerte mich, weil ich keinen Schirm mithatte. Aber ich war zu stolz um umzukehren, womöglich hätte Richard darin eine Niederlage von mir gesehen. So lief ich durch die herbstliche Nacht und tat mir selbst leid. Bald vermischte sich der Regen mit meinen Tränen und in diesem indifferenten Zustand betrat ich ein Bierlokal in einer Seitenstraße.

Mir war kalt geworden und die Vorstellung von einem Kaffee mit einer Zigarette stellte für mich in diesem Moment das Höchste der Gefühle dar. Immerhin weckte der Kaffee tatsächlich meine Lebensgeister wieder, aber man mochte es drehen wie man wollte: Richard belog mich, und das seit Wochen, und ich selber hatte ihn schon bei einem zärtlichen Tete-à-tete mit seiner neuen Flamme überrascht. Ich hatte mich nach vor gebeugt, den Kopf in der linken Hand gestützt und spürte wieder, wie sich Kälte in mir ausbreitete. Richard hatte ich wirklich geliebt, und die Unabänderlichkeit der Situation tat mir weh. Unsagbar weh. Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich die Stimme des Mannes vor mir zuerst genauso wenig registrierte wie ihn selbst.

Erst beim zweiten Mal blickte ich erschrocken auf. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Der Mann mit den grauen Schläfen, Mitte Vierzig wiederholte seine Frage. Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Dann nickte ich und während ich mir eine Zigarette aus der Packung fischte, fiel mir erst auf, dass das Lokal fast völlig leer war – der Kerl hätte sich überall hinsetzen können und einen Tisch für sich allein gehabt. Während ich noch rätselte, holte mich die angenehme Stimme des Mannes aus meinen Gedanken. „Darf ich Ihnen die Zigarette anzünden?“ Wieder nickte ich nur wortlos und während ich an der Zigarette zog, purzelten die Gedanken in meinem Kopf durcheinander. Was will der von mir?

Zumindest war ich einmal zehn Minuten nur mit dieser Situation beschäftigt und nicht mit meinem Selbstmitleid. Einige Minuten fiel kein Wort zwischen uns, dann griff mein Gegenüber den Faden wieder auf. „Entschuldigen Sie, es geht mich auch nichts an, aber Sie sehen nicht gerade sehr glücklich aus. Ich nehme an – es geht um einen Mann, nicht wahr?“ Ich fühlte mich ertappt, einen Moment begehrte mein Bauch auf, was denn das den Kerl überhaupt anginge, aber dann nickte ich einfach wieder nur. Innerhalb weniger Augenblicke fühlte ich mich mit dem Mann sehr vertraut, und begann mich ihm anzuvertrauen. Von Richard, von unserer Liebe und das sie zu Ende war. Eine andere Frau gefiel ihm besser, wir hatten uns vielleicht auch auseinander entwickelt. Manchmal weinte ich ein bisschen, aber der Mann hatte schon einige Zeit seine Hand auf meine gelegt, und das machte diese Beichte einfach, viel einfacher…

Ich konnte nicht erklären, warum ich mich gegenüber einem Fremden so öffnen hatte können, aber während ich mir noch den Kopf darüber zerbrach, begann der Fremde von sich zu erzählen. „Sie haben Ihren Liebsten verloren, und wissen Sie, ich habe auch meine Liebste verloren. Nicht an einen anderen Mann, sondern durch eine schwere Krankheit. Meine Frau ist vor zwei Tagen gestorben.“ Ich hörte ihm gespannt zu, wie er das Wechselbad zwischen Hoffnung und Verzweiflung beschrieb, dass er erfahren hatte müssen, um dann doch seine Frau nach hartem Kampf begraben zu müssen. Der Mann weinte nicht, aber bisweilen brach seine Stimme fast, und dann konnte er nicht sofort weitererzählen. Schließlich sah ich ihn an, und in diesem Moment spürte ich deutlich, dass uns ein starkes Band verknüpfte. Stark und Emotional.

Für eine Nacht waren wir Weggefährten in dieser regnerischen Nacht, Stütze und Hoffnung zugleich. Wir redeten bis in den Morgen hinein, ab und zu konnten wir sogar schon lachen und das Leuchten in den Augen des Mannes zeigte mir, dass ich ihm mehr war als nur eine stumme Zuhörerin war. Der Zufall – oder das Schicksal – hatte uns zusammengeführt und gegenseitig ebneten wir uns den Weg ein wenig in ein Leben ohne unsere Liebsten. Ich weiß nicht, wer den schwereren Part von uns zu tragen hatte, aber in dieser Nacht waren wir uns ganz nahe – ohne einen Hauch von Erotik dabei zu empfinden. Gegen fünf Uhr früh frühstückten wir noch gemeinsam am Linzer Bahnhof, dann trennten sich unsere Wege wieder.

Ich habe ihn nie nach seinem Namen gefragt. Wir haben uns danach auch nicht wieder gesehen. Hin und wieder denke ich noch an ihn. Manchmal frage ich mich, ob er vielleicht einfach ein Engel war, den mir jemand geschickt hat, um mich diese Zeit leichter ertragen zu lassen. Und der Gedanke gefällt mir sehr gut…

© Vivienne

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