In den Schuhen des anderen…

Ich lernte Erwin Trafella in dem Linzer Meinungsforschungsinstitut kennen, in dem ich in den 90ern einige Jahre gearbeitet hatte. Erwin war Student, ein liebenswürdiger Bursch, den ich sehr gern hatte, wie ich mich überhaupt mit den Studenten, die nur freiberuflich hier jobbten, oft doch viel besser verstand, als mit den eigentlichen Kollegen in der Firma. Erwin war besonders nett, ich plauderte gern mit ihm, wenn es nur meine Zeit zuließ oder besser gesagt – auch seine. Denn Erwin bekam von seinen Eltern keine finanzielle Unterstützung beim Studium – sie waren Mindestrentner und da waren keine großen Sprünge möglich. Erwin jammerte deswegen nicht und er tat sich auch nicht selber Leid. Er studierte fleißig, aber er brauchte etliche Nebenjobs, so wie hier in diesem Meinungsforschungsinstitut, um über die Runden zu kommen.

Ich fragte mich oft, wie Erwin seine Jobs koordinierte. Wenn er für eine Testreihe hereinkam, hielt er sich an ein fixes Zeitregelement, da er oft abends noch in die Redaktion einer Zeitschrift musste um Beiträge abliefern. Oder Freitagabend immer wieder in ein Lokal, wo er dann bis weit in die Morgenstunden noch kellnerte. Zum Ausschlafen kam Erwin selten, das gab er immer wieder zu, wenn ich ihn wegen der blauen Ringe unter den Augen anredete. Was ihn aber nicht hinderte, seine Arbeit mit jugendlichem Elan und Schwung anzugehen. Als er mich einmal bat, ihm eine wichtige Arbeit abzutippen, weil er so in Zeitnot war, zögerte ich nicht. Nicht nur wegen meines allseits bekannten „Sprachfehlers“, ich mochte Erwin und ich wollte ihm helfen. Als ich ihm am nächsten Tag die zehn Seiten abgetippt übergab, strahlte Erwin mich an. „Du bist die Beste, Vivi!“ Überschwänglich umarmte er mich und drückte mir einen Kuss mitten auf den Mund.

Einen kurzen Moment war ich perplex. Dann lachte ich und zuckte die Achseln – diese Hilfe war nichts Besonderes für mich gewesen, aber schon setzte Erwin nach: „DANKE! Darf ich dich zum Essen einladen?“ Begeistert schlug ich die Hände zusammen. „Aber das ist doch nicht nötig… Wohin denn?“ Erwin schmunzelte schelmisch. „Zu mir nach Hause! Ich werde kochen!“ Zu ihm nach Hause? Ich stutzte. Ich wusste genau, dass Erwin schwul war, also sicher keine Hintergedanken verfolgte. Es hieß einiges, wenn er mich in seine geheiligte Kemenate einlud. Schließlich nickte ich nach kurzer Überlegung. „Gerne! Wann darf ich kommen?“ Erwin hatte ein noch breiteres Lächeln aufgesetzt. „Hast du am Wochenende Zeit? Samstag, so gegen 19:00 Uhr?“

Etwas nervös stand ich Samstag pünktlich vor der kleinen Wohnung von Erwin. Ich trug – unglaublich aber wahr – damals tatsächlich einen bunten Sommerrock, während heute in meinem Kleiderkasten nur mehr Jeans hängen. Erwin öffnete nach einer kleinen Wartezeit, er trug eine Schürze und einen Kochlöffel und umarmte mich. „Schön, dass du da bist, Vivi! Ich freue mich so!“ Ich zog die Schuhe aus, folgte Erwin barfuß in die Küche und nahm am Tisch Platz. Erwin zwinkerte mir zu, dann öffnete er den Kühlschrank und holte zwei Packungen eines Fertiggerichtes heraus. Einen Moment glaubte ich, mich träfe der Schlag. Zum Essen einladen? Und dann Fertiggerichte? Perplex folgte mein Blick dem Tun Erwins, der die Gerichte in einen Topf mit Wasser legte um sie zu wärmen.

Naja, dachte ich mir. Ich wollte ja nicht unbescheiden sein, aber ich wäre auch gerne nur auf ein Getränk gekommen. Wie auf Kommando stellte mir Erwin auch schon ein Glas Orangensirup, zwei Trinkgläser und einen Karaffe mit Wasser hin und bat mich, mich zu bedienen. Ich hob die Brauen, aber der erste Schock war verflogen. Ich schenkte uns ein, Erwin setzte sich zu mir und wir plauderten, fast zwanglos. Das Essen selber war dann auch nicht so schlecht wie zunächst befürchtet, aber ich konnte mir bei einem Kaffee und einer Zigarette etwa zwei Stunden später nicht verbeißen, Erwin auf seine Gerichte anzureden. „Ich? Mir selber kochen? Wie kommst du darauf! Sicher nicht!“ Energisch kamen Erwins Worte.

Trotzdem widersprach ich. „Es wäre trotzdem gesünder!“ Erwin lachte. „Wann soll ich denn kochen, Vivi? Du weißt doch, dass ich kaum Freizeit habe! Das Meinungsforschungsinstitut, die Redaktion der Zeitschrift, die Bar, in der ich jobbe und all die anderen Sachen, und nicht zuletzt die Uni selber! Wenn ich Hunger habe, muss es schnell gehen! Du weiß doch, wie es mich oft herreißt. Daheim schlafe ich fast nur, weil jede Minute kostbar ist. Muss ich dir das wirklich erklären?“ Ich schwieg. So gesehen hatte Erwin nicht Unrecht. Dass er nächtens nicht noch Stunden am Herd stehen und kochen würde, leuchtete ein. Aber Erwin setzte noch nach. „Und außerdem, liebe Vivi, ist doch rauchen wohl noch viel schädlicher als ein paar Fertiggerichte. Was würdest du mir wohl erzählen, wenn ich dich zum Beenden deiner Nikotinsucht überreden wollte?“

Das saß. Natürlich war es Erwins Sache. Natürlich hatte er sein unverbrieftes Recht auf individuelle Entscheidungen, weil er nun mal sein Leben lebte und ich meines. Ich kochte mir und meinem (damaligen) Freund natürlich selber, aber meine halbe Packung Zigaretten am Tag war vom gesundheitlichen Aspekt her auch nicht ohne. Ich hatte kein Recht Erwin zu belehren, es war sein Leben. Und zugegebenermaßen hatte das Gericht gar nicht so schlecht geschmeckt… Wie lautet doch dieses alte, indianische Sprichwort? Beurteile einen Menschen erst dann, wenn du drei Monde in seinen Mokassins gegangen bist…

© Vivienne

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