KRITISCH BETRACHTET
von Vivienne – November 2003
Der Superstar, der nie Kind sein durfte
Alle Zeitungen präsentieren die Neuigkeiten in dicken Lettern auf der Titelseite, in allen Fernsehstationen wird zur Prime-Time darüber berichtet: Michael Jackson, Ex-Superstar, wird wegen Verdachts des Kindesmissbrauchs gesucht. Auf seinem Besitz Neverland wurde anscheinend belastendes Material sichergestellt, weshalb ein Haftbefehl gegen den farbigen Sänger und Entertainer ausgestellt wurde. Mittlerweile hat sich der 45jährige zwar gestellt, wurde aber gegen Kaution wieder freigelassen.
Bereits vor gut zehn Jahren war Michael Jackson schon einmal wegen angeblichen Kindesmissbrauchs im Kreuzfeuer der Kritik und unter den gestrengen Augen der Justiz gestanden. Ein 12jähriger Junge hatte angegeben, von Jackson belästigt und missbraucht worden zu sein. Nachdem sich die Eltern des Buben von einer runden Summe beschwichtigen hatte lassen, wurde die Anzeige wieder zurückgezogen. Jackson war damals eben noch ein Star, jetzt ist sein Image angeschlagen, die letzten Alben floppten mit einem Wort: der einstige Topstar ist nicht mehr unantastbar, man kann es wagen, ihn wegen seines Tuns zur Verantwortung zu ziehen ohne wegen Majestätsbeleidigung gemaßregelt zu werden. Man kann nur hoffen, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt und nicht wieder eine außergerichtliche Einigung über das Konto der Eltern stattfindet…
Wenn Jackson schuldig ist, soll er also unbedingt dafür zur Verantwortung gezogen werden. Das sage ich ganz unmissverständlich, obwohl die Musik Michael Jacksons über viele Jahre einen ganz hohen Stellenwert in meinem Leben hatte. Aber gerade auch deswegen frage ich mich, wie es so weit kommen konnte. Wie ein unheimlich talentierter Junge, der mit seinen älteren Brüdern in einer Gruppe sehr erfolgreich zu singen und zu tanzen begonnen hatte, schließlich zu einer verschrobenen, merkwürdigen und immer verrückteren Person wurde, die anscheinend nach und nach völlig den Bezug zur Realität und zu einem normalen Leben verloren hat…
Lassen Sie mich einige Zeit zurückgehen, was heißt einige Zeit, ziemlich genau 20 Jahre. Ich besuchte das Gymnasium in Linz und ein junger farbiger Sänger brachte sein zweites Solo-Album auf den Markt. Ein Album, dass in der Popwelt Geschichte schreiben sollte: Thriller… Es scheint auch für mich selber schwer vorstellbar, aber die biedere, bezopfte Vivienne, die im Gymnasium ums Überleben kämpfte, fand Gefallen an der Musik dieses einmaligen Künstlers. Im Grunde entführte mich Jackson in eine völlig andere Welt der Musik, als ich sie bisher gekannt hatte. Aufgewachsen mit Ö Regional, wie es damals noch hieß, war Jackson einer jener Popsänger, die mich wenn ich es vom jetzigen Standpunkt aus betrachte auf den richtigen Weg führte.
Schlager sind mir seither bis heute zuwider. Und ich kaufte Jacksons Thriller. Ich kaufte auch das Nachfolgealbum Bad und den Vorgänger Off the Wall, ich war auf seinem ersten Österreichkonzert überhaupt, in Wien, im Ernst-Happel-Stadion, das damals noch Praterstadion hieß: am 1. Juni 1988. Und wie ein jeder echter Fan, ignorierte ich die Geschichten, die schon damals um ihn kursierten: dass er nächtens im Sauerstoffzelt schläft, dass er sich seine Haut bleicht, dass er schon etliche Schönheitsoperationen hinter sich hatte (Und noch einige vor sich!). Ich kann mich erinnern, ich war tatsächlich sogar überzeugt, dass die meisten Geschichten nur dem Selbstzweck dienten, will meinen: bewusst von Jacksons Management unter die Leute gebracht wurden, damit Jackson im Gerede bleibt.
Selbstbetrug nennt man das. Aber mit der Zeit geriet dieses Bild, das ich mir von Jackson geschaffen hatte, ins Wanken. Vor allem, dass er für mich und nicht nur für mich optisch einem Monster immer ähnlicher wurde, gab mir dann zu denken. Wenn ich die Fotos auf seiner ersten CD Off the Wall betrachtete und dann mit den neuesten Veröffentlichungen verglich, kam mir fast das Fürchten. Längst war mir klar geworden, dass die Schlagzeilen über seine Verschrobenheiten keine Enten waren, wie man im Fachjargon sagt, sondern mit Sicherheit der Realität entsprachen. Das einzige, was mich nach wie vor fesselte, waren seine Stimme, sein Gesang, sein Tanz. Das alles war aber auch echt.
Als die nicht unkonkreten Verdächtigungen vor 10 Jahren wegen Kindesmissbrauchs durch die Medien gingen, hatte ich die Nase voll. Es war eine schwere Entscheidung, aber ich trennte mich von allen Jackson-Platten. Ich hatte kein Verständnis für einen möglichen Kinderschänder, immerhin war ich selber als Kind von einem Triebtäter sexuell belästigt worden und nur mit viel Glück Ärgerem entgangen. Erst in der Folge erfuhr man dann Genaueres über die Kindheit von Michael Jackson und die seiner Geschwister. Offenbar hatte der brutale und cholerische Vater seine Kinder nicht nur alle geschlagen sondern auch missbraucht. Vor allem die Mädchen, aber eben auch Michael, den Talentiertesten wie Verletzbarsten. Und damit hatte Jackson Senior für den Jungen die Weichen gestellt für ein Dasein als Seelenkrüppel. Jackson mutierte mehr und mehr zu einem Einzelgänger, der völlig verschroben, um nicht zu sagen skurril und realitätsfern ein Leben lebte, in das er offenbar nur Kinder einließ, was aber nicht zu deren Vorteil war, wie mir immer deutlicher scheint.
Ständig machte Jackson Schlagzeilen, die einen zum Kopfschütteln brachten. Eine Ehe mit Lisa-Marie Presley, die angeblich (oder sehr wahrscheinlich) nie vollzogen wurde. Eine weitere, kurze Ehe mit einer ehemaligen Krankenschwester, in der Jackson zweimal Vater wurde (oder doch durch künstliche Befruchtung?). Ein drittes Kind ohne dass jemals eine Mutter genannt oder bekannt wurde. Immer häufiger fragte ich mich, wie man Jackson überhaupt kleine Kinder überlassen konnte, deren Vater er offensichtlich gar nicht sein konnte. Aber niemand griff ein, bis vor wenigen Tagen die neuerlichen Anschuldigungen auftauchten…
Ist Michael Jackson nun ein abartiger Triebtäter, der sich an Kindern vergreift? Mit Sicherheit kann man im Moment noch nichts sagen, aber ich kann mich eines unguten Gefühls nicht erwehren, wenn sich ein verdächtiger Mensch immer wieder mit einer hohen Summe loskaufen muss, um Anklagen zu entgehen bzw. zumindest auf Kaution frei zu gehen. Und sollte Jackson tatsächlich die Grenze zum Kinderschänder schon überschritten haben, woran ich im Grunde nicht mehr zweifle, muss man sich fragen, warum die Justiz solange tatenlos zugesehen hat. Vielleicht einfach deshalb, weil er als Megastar einfach tabu war, so dass lieber riskiert wurde, dass womöglich unschuldige Buben von ihm missbraucht werden, als es gegen das Geld und den Einfluss dieses Menschen aufzunehmen.
Jackson ist zweifellos auch ein armer Teufel. Durch die üblen Erfahrungen in seiner Kindheit hatte er wohl nie die reelle Chance, ein normaler Mensch zu werden, ein normales Leben zu führen. Das entbindet ihn aber nicht der Verantwortung, für das was er (im Sinne der Unschuldsvermutung) unter Umständen getan hat. Schon aus diesem Grund würde ich eine restlose Klärung des Falles Michael Jackson so begrüßen – aus der Verantwortung gegenüber allen potentiellen Opfern. Oder will die amerikanische Justiz noch einmal 10 Jahre abwarten?
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