Neue Bohnen Zeitung


Die bunte Welt von Vivienne
von Vivienne  –  September 2001


Blind date 

Sie kennen das sicher: wenn die Nächte kühler und länger werden, wenn es morgens beim Aufstehen noch dunkel ist und beim Verlassen der Wohnung noch saukalt und beim Heimfahren am Abend noch viel dunkler – dann steigt das Bedürfnis der Menschen: nach Streicheleinheiten, nach Kuscheln, nach betulicher Zweisamkeit. Idealerweise vor dem Kamin. Pech nur, wenn man gerade allein lebt. Pech, wenn der Riesenteddy auf Dauer nicht ausreicht, weil die Gefühle ziemlich einseitig sind. Und ein Polyesterfell eben doch eine ganz andere Wärme vermittelt als die von einem echten, lebendigen Menschen. Vor einem knappen dreiviertel Jahr ging ich auch durch diese Phase. Mein bedrückendes Gefühl der Einsamkeit wurde verstärkt durch die Radiosendung „Stelldichein bei Katrin“, die ich mir wegen der angenehmen Musik abends, wenn ich daheim war, gern zu Gemüte führte.

„Schönen guten Abend“, ließ ich mich dann wie viele andere um die Zeit vor den Radiogeräten von Katrin begrüßen. „Ich freu‘ mich, dass Sie wieder Zeit haben. Und Sie wissen ja, Sie, meine lieben Zuhörer, Sie sind die Stars in meiner Sendung. Sie bestimmen, was bei mir zur Sprache kommt: ob Sie Ihre Liebste zurückerobern wollen oder Ihren Ex nur wissen lassen möchten, dass er Sie in Ruhe lassen soll – hier haben Sie ein Forum. Wenn Sie sich aufregen möchten über etwas, das Ihnen heute passiert ist oder einfach aller Welt mitteilen wollen, wie sehr Sie verliebt sind – hier dürfen Sie das. Und wenn Sie denken, Sie waren lange genug Single und möchten wieder jemanden kennenlernen – hier bei mir im „Stelldichein“ hören Ihnen so viele Menschen zu, die wie Sie des Alleinseins überdrüssig sind. Da bleiben Sie sicher nicht lange allein.“

Irgendwann, Ende Oktober, Anfang November letzten Jahres war es bei mir dann auch so weit. Ich hatte, nervös wie ein Teenager, zum Handy gegriffen und bei Katrin in der Sendung angerufen. Warum soll ich es denn nicht auch versuchen, dachte ich mir. „Hallo, da ist die Katrin vom Stelldichein“, meldete sich Katrin. „Hallo Katrin“, antwortete ich mit heiserer Stimme und Kratzen im Hals. „Da spricht Vivienne.“ „Hallo Vivienne“, begrüßte mich Katrin freundlich. „Du hast einen wunderschönen Namen. Woher kommt der?“ Ich war verwirrt und schluckte. Woher…? Keine Ahnung. Mit der Frage hatte ich nicht gerechnet. In eine fast schon peinliche Pause hinein stotterte ich auf eine momentane Eingebung hin etwas von einer Großmutter… „Ah, deine Großmutter hieß auch Vivienne? Schön. Nun sag‘, Vivienne: wie kann ich dir heute helfen?“

Ich schnaufte und sagte schließlich mit halblauter Stimme: “Ich möchte jemanden kennenlernen.“ Katrin schmunzelte und meinte: „Du bist sehr nervös. Du sprichst das erste Mal im Radio, ja? Aber du musst ein bissel lauter sprechen. All die Männer da draußen an den Radiogeräten, die können sich nämlich nur über deine Stimme ein Bild von dir machen.“ Ich räusperte und begann dann immer flüssiger von mir zu erzählen: Mitte dreißig, rothaarig, mittelgroß,… mit Faible für klassische Literatur wie Shakespeare und Goethe, Kinofreak, die „große Liebe“ heißt John BonJovi,… Da stoppte mich dann Katrin. „Das ist ja eine ganze Menge. Und wie soll denn der Mann sein, den du kennenlernen möchtest?“ Ich dachte kurz nach. Wie soll der Mann sein, den ich kennenlernen möchte…? „Na, soll er vielleicht so aussehen wie John BonJovi?“ versuchte mir Katrin zu helfen. Was für eine Frage, dachte ich mir. „Ich denke, er sollte auch Single sein und auf der Suche nach einer ernsthaften Beziehung“, fiel mir dann ein. Richtig, das sagten die meisten Leute, die wegen einer neuen Bekanntschaft in der Sendung anriefen. „Gut, Vivienne, gib‘ deine Handynummer durch… Ich wünsche dir ein aufregendes Blinde Date. Und melde dich, ob’s geklappt hat, ob jemand Passender dabei war. Schönen Abend noch.“

Ich saß auf dem Bett und schnaufte. Meine Hände waren vor Nervosität feucht geworden. Kaum zu glauben, aber ich war im Radio gewesen und hatte meine Telefonnummer durchgegeben. Ich hatte es geschafft. Da kam dann auch schon die erste SMS herein. Ging ja schneller als ich dachte…

Insgesamt meldeten sich etwa zehn bis zwölf „Interessierte“, wenn ich das so formulieren darf. Ein paar Scherzkekse schied ich schnell aus; einer wollte mich in eine Menage à trois einladen; einer wollte sich nur ausreden, weil seine Beziehung gerade gescheitert war,… Wie bei den zehn kleinen Negerlein: nach zwei Tagen stand mein Favorit fest: Dieter, Ende dreißig, geschieden, eine kleine Tochter mit sechs Jahren, die ihm wirklich etwas bedeutete. Er sprach in sehr warmen, liebevollen Worten von ihr, seinem Herzbinkerl, wie er sie nannte. Beruflich war er in einer EDV-Firma tätig, betreute Kunden vorort und telefonisch. An den beruflichen Aktivitäten war seine Ehe vor zwei Jahren gescheitert, aber diesen Fehler wolle er nie wieder machen. Er wisse erst jetzt, wie wichtig es sei, ein intaktes Privatleben, einen Ruhepol um sich zu haben…

Wir telefonierten ziemlich viel. Lachten, schäkerten, ich hatte so das Gefühl, dass die Chemie stimmte. Ich bemerkte, dass ich ein wenig zu träumen begann, mir zu vorstellen versuchte, wie er aussieht… Ja, es ging mir gut dabei. Und nach einer Woche schlug mir Dieter schließlich mit seiner sanften, einschmeichelnden Stimme vor: „Was hältst du davon, sehen wir uns am Samstag? Griechisch essen gehen, ich weiß da ein gutes Lokal am Hauptplatz… Gibt auch exquisiten Wein dort, jede Menge Auswahl. Und nachher können wir noch in die Altstadt schauen. Ein Bekannter von mir hat dort ein Lokal – was vom Feinsten, sag‘ ich dir. Na, sag‘ schon – sag‘ ja…“

Ich schloss die Augen. Natürlich wollte ich, keine Frage. Wir verabredeten uns. Ich wollte als die geheimnisvolle „Frau in Blau“ kommen – ich hatte mir gerade ein tolles Ensemble gekauft – mit einer orangefarbenen Rose in der Hand. Dieter lachte auf seine unwiderstehliche Art und versprach: „Gut, ich komm‘ dann auch mit einer orangefarbenen Rose. Du, ich freu‘ mich echt – also versetz‘ mich nicht.“

Wolke sieben. Ich schwebte durch den Rest der Woche. Voll mit romantischen Gefühlen und Vorstellungen. Und wie gesagt, es ging mir gut dabei. So gut… Freitag besuchte ich dann noch meine Schwester Beatrice, die mit ihrem Mann in einer abgeschiedenen Mühlviertler Gemeinde wohnt. Ich schwelgte ihr vor, wie nett Dieter sei, wie witzig, wie amüsant,… Beatrice lächelte. „Ich will dich ja nicht runterholen, aber vergiss nicht: noch kennst du ihn nicht wirklich.“ Sicher, sie hatte schon recht, aber Dieter war einfach ein netter Kerl. Soviel konnte ich mit Sicherheit sagen. Konnte da so viel schief gehen?

Samstag morgen brachte mich Beatrice wieder nach Linz. Ich wollte natürlich noch zum Friseur, außerdem ein Schönheitsbad nehmen,… das Übliche halt vor einem Rendez-vous. Wir fuhren auf einer schmalen, kurvigen Landstraße, die auch immer wieder durch Waldabschnitte führte. Vor uns die ganze Zeit ein blauer Fiat mit Salzburg-Land-Kennzeichen, offensichtlich ortsunkundig mit beinahe Schrittempo. Überholen unmöglich, das ließen weder Sicht noch Straßenverhältnisse zu. Wäre auch an sich kein Maleur gewesen, wenn nicht auf halber Strecke nach Linz der rote BMW mit Linzer Kennzeichen aufgetaucht wäre. Der Fahrer hatte es offenbar eilig, hupte immer wieder, nahm es auch mit dem Sicherheitsabstand zu uns nicht sehr genau. Manchmal war er nur mehr einen halben Meter hinter uns.

„A…“, äußerte Beatrice kopfschüttelnd in Richtung Fahrer. „Aber auch wenn du dich auf den Kopf stellst, wir überholen nicht.“ In diesem Moment blinkte der Fiat überraschend rechts und bog in einen schmalen Seitenweg ein, der wegen eines großen Holzstapels vorher nicht einzusehen war. „Hoppala“, dachte Beatrice laut und stieg auf die Bremse. Gerade rechtzeitig. Der rote BMW, der zuvor wieder ganz knapp auf Tuchfühlung zu Beatrice‘ Wagen gegangen war, kam Zentimeter hinter uns zum Stehen. Der Fahrer des BMW sprang wütend aus seinem Auto und ließ eine Schimpfkanonade vom Stapel. Beatrice blickte mich seufzend an, dann stiegen wir aus.

Der Fahrer war eigentlich ein ganz gutaussehender Mann, wie ich ihn einschätzte: groß, blond, blauäugig, mit einer dieser chicken randlosen Brillen. Er betrieb halt gerade Anti-Werbung in eigener Sache, denn seine Wortwahl sprach nicht für ihn. „Beruhigen Sie sich“, unterbrach ihn Beatrice. „Es ist nix passiert.“ „Typisch –  zwei Frauen und beide keinen Dunst vom Autofahren!“ polterte der weiter und ließ seinen Blick abwertend über uns schweifen. Da riss bei mir der Faden. „Chauvy“, fauchte ich, „von wegen keinen Dunst vom Autofahren…“ Ich wollte ein paar Schritte auf den Typen zu machen, aber Beatrice hielt mich auf. „Hey,“ sagte sie, „das mach‘ ich.“ Zu „Mister BMW“ meinte sie auf ihre unverwechselbare, ironische Weise: „Hören Sie, wir können jetzt noch eine Stunde diskutieren, wer hier wirklich keinen Dunst vom Auto fahren hat. Aber wir haben keine Zeit dafür. Denken Sie vielleicht mal nach darüber, dass Sie mit ihrem Vehikel so gut wie nie den nötigen Sicherheitsabstand eingehalten haben. Ich sage Ihnen: Sie sollten froh sein, dass nix passiert ist – nicht wir.“ Drehte sich um und drängte mich in ihren Wagen.

Der BMW-Fahrer war puterrot geworden, als Beatrice sein offensichtlich ziemlich neues Auto als Vehikel bezeichnet hatte. Ich bewundere Beatrice oft wegen ihrer Wortwahl – da trifft sie so manchen A… mehr als wenn sie auf seinem Niveau schimpft. Als Beatrice den Motor anließ, kam er ans Fenster. Offensichtlich war die Sache für ihn noch nicht vorbei. Beatrice drückte cool auf die Hupe so dass er zurückschreckte, stieg aufs Gas und fuhr unbeeindruckt weiter.

Ich ärgerte mich noch eine ganze Weile. „Hey“, stieß mich Beatrice an. „Der Typ ist ein Vollkoffer. Die Straße ist voll mit solchen Leuten, die gar nicht kapieren, dass sie Moorhühner auf Rädern sind. Du wirst dich doch nicht den ganzen Tag ärgern wegen so was?“ Ich sah sie an. „Na“, grinste Beatrice, „hast du heute nicht ein Blinde Date?“ Richtig. Ich wollte mich ja mit Dieter treffen. Ich sollte echt nicht mehr an die Sache denken. Und ich träumte ein wenig von Bruce Willis und Kim Basinger…

19.24 Uhr. Ich hatte in meinem blauen Ensemble am reservierten, liebevoll dekorierten Tisch Platz genommen und die Rose deutlich sichtbar vor mir hingelegt. Ich wusste, ich sah hinreißend aus, mein Haar leuchtete granatrot und ich war ein wenig nervös. Kein Wunder. Der Kellner reichte mir die Speisekarte. Was würde ich mir zum Essen bestellen? Sollte ich vielleicht Dieter fragen, was er mir empfehlen könnte…? „Vivienne?“ fragte da eine Stimme mit warmem Schmelz in meine Überlegungen hinein. Ich sah auf – und zuckte zusammen: vor mir stand der Chauvy mit der randlosen Brille von heute morgen… ganz elegant in dunkler Hose und Sakko.

In Dieters verdattertem Blick konnte ich meine eigene Betroffenheit lesen. Ich legte die Speisekarte vor mir hin und versuchte nachzudenken. Das konnte doch nicht war sein…! Nach einer Ewigkeit, die in Wirklichkeit keine Minute gedauert hatte, hörte ich mich „Setz‘ dich doch.“ sagen. Mit einer fremden, ungewohnten Stimme. Erst jetzt merkte ich, dass Dieter einen wunderschönen Strauß langstieliger, orangefarbener Rosen in der Hand hielt. Er bemerkte meinen Blick und sagte, um nur irgend etwas zu sagen: „Die sind für dich.“ Tatsächlich? Hätte ich nie gedacht.

Der Kellner trat an unseren Tisch. An einer gewissen Unsicherheit in seinem Gebaren erkannte ich, dass er deutlich spürte, dass zwischen Dieter und mir etwas nicht stimmte. Ich bestellte ein Glas Mineralwasser. Dieter wollte etwas zu mir sagen, ließ sich dann die Weinkarte bringen. Er schlug mir ein paar Weine vor, die ich mit Hinweis auf mein Auto und dass ich noch heimfahren müsste, zurückwies. Eigentlich war mir auch der Hunger völlig vergangen, aber ich bestellte dann – mit Hinweis auf meine Diät – eine Kleinigkeit, die ich ohne Appetit aß. Dieter schien auch nicht gerade hungrig zu sein. Er bestellte zwar etliche Spezialitäten, die er aber kaum anrührte. Dafür rauchte er eine Zigarette nach der anderen. Die Finger seiner linken Hand waren nikotinverfärbt, schöne, lange, schmale Finger, wie mir auffiel – aber das spielte keine Rolle mehr.

Unser Dialog war einsilbig. Kurze Sätze. Minutenlanges Schweigen. Die Atmosphäre war eher eisig denn prickelnd erotisch. Ich rief den Kellner: „Zahlen bitte!“ Dieter sah mich mit halb geöffnetem Mund an. Der Kellner fragte: „Alles zusammen?“ „Nein, getrennt,“ antwortete ich. Der Kellner fixierte mich erschreckt, ich musste wohl sehr rüde geklungen haben. Egal. Ich gab kein Trinkgeld. „Tschüs, war nett dich kennenzulernen“, konnte ich mir mit Mühe entringen und stand auf. Das „Du brauchst nicht mehr anrufen.“ verbiß ich mir. Während ich nach der Tasche griff, blickte ich Dieter noch einmal ins Gesicht. Er sah wirklich nicht schlecht aus, keine Frage. Diese randlosen Brillen passten ihm wirklich gut. Sei’s drum. „Deine Rosen!“ rief er mir nach. Ich drehte mich um. Dieter stand etwas hilflos neben unserem Tisch, mit dem Strauß in der Hand. Ich lächelte ihn mechanisch an, nahm die Rosen und ging.

Als erstes ging ich auf die Toiletteanlage am Hauptplatz, drückte der verdatterten Klofrau die Rosen in die Hand und sperrte mich fünf Minuten am Klo ein. Dort verdrückte ich ein paar Tränen aber zu mehr reichte es dann doch nicht. Dann ich ging ich wieder hinaus und rief mir ein Taxi. Natürlich war ich nicht mit dem Auto da, ich hatte mir das irgendwie schon anders vorgestellt. Aber das musste Dieter ja wirklich nicht wissen. Ich sah noch einmal auf die Uhr. Noch nicht einmal 22 Uhr. Was für ein Abend!

„Sag‘, es war nix“, tröstete mich Beatrice dann am späten Sonntag nachmittag. Sie war auf einen Kaffee zu mir in die Wohnung gekommen. „Glaubst du nicht, dass du früher oder später ohnedies herausgefunden hättest, was er für ein Chauvy ist?“ „Sicher“, gab‘ ich mit verkniffenen Lippen zu. Beatrice grinste mich an. „Hey, lass deine Trauermiene. Dass mit den Rosen für die Klofrau fand ich übrigens nicht unoriginell.“ Ich lächelte eher hilflos zurück. Beatrice hatte schon recht. Dass er am Telefon so nett, so sympathisch rübergekommen war, besagte schließlich gar nichts. Und ganz sicher sind es nämlich Extremsituationen wie jene auf der schmalen Landstraße im Mühlviertel, die ein ganz unverfälschtes Bild von einem Menschen vermitteln.

Ob ich das Katrin in ihrer Sendung einmal sagen soll?

Vivienne

 

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