Neue Bohnen Zeitung


DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne  –  Februar 2002



„Wenn Teenager träumen …“

„Das Leben wird immer vertrackter,“ philosophierte ich neulich mit Albert. „Wenn ich mir da überlege, worüber ich mir zu meiner Schulzeit Gedanken machte, Banalitäten!“ So ein Teenagerherz ist leicht aus der Fassung zu bringen: schlechte Noten, ein böser Professor oder die erste große Liebe, deretwegen Bub oder Mädel nächtens klammheimlich ins Kopfpolster weint. „Hoffnungslose Liebe macht den Mann kläglich und  die Frau beklagenswert“, umschrieb die große Marie von Ebner-Eschenbach diesen komplexen Bereich. Nirgends ist der Mensch so verletzbar wie in seinen Gefühlen, und nie ist er verletzbarer, als wenn es um die erste, große Liebe geht. „Die Zeit heilt alle Wunden“ wird in diesem Zusammenhang gern gebraucht oder besser gesagt, bemüht, denn wenn ein Bursch oder ein Mädel heiße Tränen wegen unerwiderter Gefühle vergießt, kann er oder sie alles brauchen nur keine klugen Sprüche. Ungeachtet dessen, dass alles in ein paar Wochen ganz anders ausschaut…

Albert und ich gingen unsere Beziehung sehr vorsichtig an. Wir haben nach wie vor getrennte Wohnungen, verbringen die Wochenenden aber meistens bei mir, weil Alberts „Refugium“ fast zu klein dafür ist. Obwohl ich denke, dass es mit uns schon klappen wird, entschieden wir beide, dass wir unser Verhältnis eher langsam intensivieren, weil wir beide längere Zeit allein gelebt haben, und weil wir uns nicht über Nacht von gewissen Freiheiten trennen können oder auch wollen, die man in einer Beziehung nicht so einfach ausleben kann. Bisher funktioniert das sehr gut, erstens, weil wir beide gereifte Persönlichkeiten sind, zweitens genießen wir die Zeit zusammen dafür um so intensiver. „Jetzt hab‘ ich endlich einen Grund, mich wieder auf’s Wochenende zu freuen“, brachte es Albert einmal auf den Punkt. Solche Worte schmeicheln wir sehr…

Im Oktober planten wir das verlängerte Wochenende wegzufahren. Eine starke Erkältung, die ich mir eine Woche zuvor geholt hatte, machte uns einen Strich durch die Rechnung. Ich war noch zu rekonvaleszent, aber Albert nahm das sehr locker. „Macht nix“, erklärte er. „Wir holen uns ein paar Videos, lassen uns Pizza kommen oder was du willst, und dann schauen wir uns ein paar Filme an, gemeinsam, auf der Couch, Handys ausgeschaltet. Was hältst du davon?“ Ich musste lachen als ich ihn ansah mit seinem treuherzigen Blick… Zigaretten schmeckten mir noch immer nicht, und was konnte oder besser gesagt wollte ich schon gegen ein paar hohe Dosen Kuscheln, Romantik und Zärtlichkeiten einwenden? Gar nichts…!

Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. „Email für dich“ war im Videorecorder, und Albert wollte gerade beim Pizzamann anrufen, als der Strom weg war. Kein Licht, nichts funktionierte. Der Schutzschalter war nicht gefallen, aber Albert fand  – oh Wunder! – die Taschenlampe und kämpfte sich ins Stiegenhaus vor. Nach einigen Minuten in völliger Dunkelheit kam Albert zurück. „Im ganzen Haus kein Licht“, erklärte er, irgendein Defekt. „Also nichts mit Meg Ryan und Tom Hanks“, folgerte ich. „Ist das schlimm?“ fragte Albert und setzte sich neben mich auf die Couch. „Nein“, antwortete ich, „es geht auch ohne Flimmerkiste, oder?“ Albert organisierte – ich weiß nicht wie, da er meine Wohnung damals noch nicht so gut kannte – ein paar Kerzenständer und entzündete zwei Kerzen auf dem Couchtisch. Die Flammen verbreiteten ein angenehmes Licht, das Flackern wirkte beruhigend auf mich.

Albert und ich schwiegen eine Weile, eng aneindergekuschelt. Kurt Tucholsky fiel mir ein. „Es ist schön, mit jemandem schweigen zu können.“ Wie wahr, wie sehr wurde mir erst in diesem Augenblick bewusst! Nach einer Weile begannen wir dann zu reden, ich weiß nicht mehr, wer von uns den Anfang machte. Alltägliches, bis Ali schließlich mit schelmischem Lächeln die Frage stellte: „Wer war eigentlich deine erste Liebe?“ Ich lachte kurz auf und zog die Augenbrauen hoch. „Das würde mich bei dir auch interessieren!“ spielte ich den Ball zurück. „Oh, das ist ganz einfach, meine erste Liebe war… Vivienne.“ Das saß. „Scherzkeks“, antwortete ich und zog ihn spielerisch am Ohr. „Das ist eine Lüge.“ „Ich hab aber auch zuerst gefragt“, entgegnete Albert. „Wenn du’s nicht erzählst, gibt’s dieses Wochenende keine Zigaretten mehr!“ „Erpressung!“ meuterte ich. „Menschenrechtskonvention.“ Bevor ich weiterzetern konnte, küsste mich Albert und nahm mir so die Gelegenheit, Amnesty International zu Hilfe zu rufen.

Schließlich begann ich zu erzählen. „Es war im Gymnasium, in der 7., glaube ich. Ich war so eine biedere Landpomeranze mit dickem Zopf und sehr – sagen wir mal – unmodern gekleidet. Er hieß Philip, war ein wenig größer als ich und gut in allen Gegenständen, die ich hasste: Physik, Chemie, Mathematik. Er trug eine dicke Brille, sonst ein eher unscheinbarer Typ, der auch ein wenig unter den Hänseleien seiner Kollegen litt.“ Ich ließ mich ein wenig über die unglücklichen Schuljahre aus, die mich oft nahe am Aufgeben, am Verlassen der Schule sahen. Albert hörte interessiert zu und unterbrach mich schließlich. „Gut, wie war es dann mit Philip?“ Ich lächelte in der Erinnerung und fuhr fort. „Weißt du, ich habe ihn immer so aus der Ferne bewundert. Ich denke, auf gewisse Art und Weise war er auch ein Außenseiter so wie ich. Keine Ahnung, ob er mich jemals wirklich wahrgenommen hat.“

Ich macht eine Pause. Gern hätte ich mir eine Zigarette angezündet, aber ich traute mich nicht wirklich, weil ich so einen schlimmen Husten gehabt hatte. „In der Parallelklasse war ein sehr attraktives Mädel, Ulli: brünette Locken, Kussmund (heute würde ich sagen Schlauchbootlippen), riesiger Busen, tolle Figur. Die Burschen, oder besser gesagt, ein Teil von ihnen, waren ganz heiß auf sie. Aber natürlich hatte sie einen Freund: Christian, der gerade beim Bundesheer war. Seine Eltern waren schwer vermögend, hatten ein Taxiunternehmen in Linz, dazu ein paar Häuser. Eine Familie, die geradezu stank vor Geld, muss man sagen.“ Albert hörte ruhig und aufmerksam zu und sagte nichts. Ich schwieg ein paar Minuten. Momentan war ich wieder die 18jährige Vivienne, die den gleichaltrigen Philip liebt und die Angst hat, ob sie überhaupt die Matura schafft.

„Diese Ulli wusste genau,  wie sie auf die Burschen wirkt. Wie ernst sie ihre Flirts betrieb, weiß ich nicht. Aber einmal, kurz nach den Osterferien, kam ihr die Idee, sich Philip zur Brust zu nehmen.“ Albert sah interessiert auf. „Sie hat ihm was von der großen und einzigen Liebe vorgegaukelt. Nicht alle Mitschüler wussten, dass sie einen Freund hatte. Jedenfalls machte es ihr riesigen Spaß, Philip zu veralbern. Er fraß ihr aus der Hand, wenn du weißt, was ich meine… Und mir brach es das Herz.“ Ich seufzte, während mir alles wieder einfiel. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm das für mich war. Ich habe ein Meer aus Tränen vergossen. Und dabei wusste ich ganz genau, dass sie es nicht ehrlich meinte. Genaugenommen hatte ich mir nie wirklich Hoffnungen auf Philip gemacht, aber mir war halt klar, dass sie ihn nur zum Narren hielt. Sagen konnte ich es ihm nicht, er hätte mir nie geglaubt. Doch irgendwann würde er es trotzdem erfahren…“

Ich war ein wenig unruhig, die Erinnerung hielt mich ganz gefangen. „Ein paar Schulkollegen haben dann nach zwei oder drei Wochen in einer Pause eine Konfrontation erzwungen, weil Philip ihnen leid tat. Die Ulli gab schließlich zu, ohne irgendein Bedauern oder Mitgefühl, dass sie, erstens einen Freund habe und zweitens, dass er, Philip, ihr nichts bedeute. Ich kann mich genau erinnern, es war ihr sehr peinlich, und unangenehm. Philip war völlig vor den Kopf geschlagen. Er, der Streber, der nie fehlte, packte seine Schultasche und verließ das Klassenzimmer. Ich habe seinen Blick noch vor mir, wie er  die Tränen hinter den Brillengläsern wegwischte. Es war furchtbar…“ Albert nahm meine Hand. „Geht’s, Viv?“ fragte er sanft. Ich lächelte zurück und nahm wieder den Faden auf.

„Am nächsten Tag war er wieder da, blass, nein, kreidebleich, als ob er schwerkrank sei. Es tat mir sehr weh ihn so zusehen. Dafür war dann Ulli nicht in der Schule, wie sich nach ein paar Tagen dann auch zu mir herumsprach. Sie kam erst nach einer Woche wieder: verheult, fertig, nichts von ihrer üblichen koketten Art. Erst nach und nach sickerte durch, was passiert war. Die Eltern von Christian, Ullis Freund, waren anonym angerufen worden und über den „liederlichen Lebenswandel“ der zukünftigen Schwiegertochter informiert worden, vor allem darüber, dass sie überall erzähle, sie hätte gar keinen Freund und dass sie sich dementsprechend verhalten würde – siehe Philip. Danach war der Teufel los. Dem Vernehmen nach wurde Christian von Ebelsberg, wo er seinen Grundwehrdienst absolvierte, auf Sonderurlaub heimzitiert. Weißt, Ali, wie es halt so ist bei Geschäftsleuten: denen ist sowieso nur eine Schwiegertochter mit viel Geld recht, gut genug ist solchen Leuten nicht leicht eine.  Und wenn dann so was aufkommt, ist das Wasser auf deren Mühlen… Trennung auf Zeit wurde den beiden zwangsverordnet, dieser Christian hatte wohl auch keine Wahl. Und so weit ich es in Erinnerung habe, blieb es dann bei der Trennung. Ulli verließ die Schule, mehr weiß ich eigentlich nicht…“

Albert sah mich gespannt an, trotz der relativen Dunkelheit konnte ich die Frage in seinem Gesicht lesen. Ich sah nach unten und gab mir einen Ruck. „Weißt du, es war ganz leicht die Telefonnummer von Christians Eltern im Telefonbuch zu finden. Wenn ich zurückdenke, es war ja so leicht. Ich rief an, zwei Mal, drei Mal, zuerst wollten sie mir ja nicht zuhören, aber ich gab nicht nach. Seine Mutter war schließlich am leichtesten zu überzeugen, dann kam auch sein Vater ans Telefon, und schließlich hörten sie mir am Schluss beide zu. Ich sagte nicht, wer ich bin, aber dass ich auch auf der Schule sei und ich klang offenbar überzeugend genug.“ Irgendwie wagte ich es nicht, Albert anzublicken. Das war eine schöne Geschichte – die biedere Vivienne rächt sich für die geraubte Liebe. Ob er schockiert war? Als ob er ahnte, was ich empfand, nahm mich Albert ganz fest in die Arme. „Hast du damals so gelitten?“ „Unsäglich“, gab ich zu und sah Albert dankbar an. „Ich hatte in meinem Kopf nur einen Gedanken: wenn ich leiden muss, dann soll sie auch leiden! Und das habe ich dann auch erreicht. Eine Zeitlang hatte ich furchtbare Angst, dass es aufkommt, aber offenbar war ich gar nicht in Verdacht, ich sagte dir ja, ich war ja so bieder und unscheinbar.“

Die eine Kerze war fast niedergebrannt. Albert sprang auf und zündete eine andere an. Er sah kurz auf die Uhr und holte aus der Küche eine Flasche Mineral. „Wie… wie ging es weiter mit dir und diesem Philip?“ fragte er in die Stille hinein. „Gar nicht“, fuhr ich fort. „Ich habe ihn weiter nur aus der Ferne bewundert, und nach der Matura habe ich ihn nicht wiedergesehen.“ Albert lächelte. „Für eine Liebe aus der Ferne bist du ganz schön rachsüchtig.“ Er kuschelte sich wieder zu mir. „Stichst du mir gleich ein Messer in den Rücken?“ Ich warf ihm ein Kissen auf den Kopf und musste lachen. „Ja, richtig, wie war es denn mit deiner ersten Liebe?“ Albert schoss das Kissen punktgenau zurück. „Das sagte ich dir doch schon.“ Er traf mich ins Gesicht. Ich schnappte mir den Polster und fragte. „Wie, gar nichts hast du gesagt!“ Albert nahm mir den Polster mit sanftem Druck aus der Hand. „Doch, hab ich. Ich sagte… Vivienne…“

Verblüfft hielt ich inne. Wollte er mich auf den Arm nehmen? In diesem Moment flammten die Glühbirnen wieder auf und die Zeitanzeige des Videorecorders begann zu blinken. Etwa zehn Minuten später begann Tom Hanks unbekannterweise Emails an Meg Ryan zu verschicken und Albert und ich sahen interessiert und eng umschlungen zu. Besser gesagt, nur Albert sah interessiert zu, ich dachte vielmehr fieberhaft darüber nach, wie Albert das gemeint haben konnte…

Vivienne 

 

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