Neue Bohnen Zeitung


DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne  –  Juli 2003



Geschichten zur Urlaubszeit:
Einmal London und retour

Kopfschüttelnd stand ich vor meinem alten Kleiderkasten und ärgerte mich grün und blau. Eben – ich war noch keine Viertelstunde von der Arbeit daheim – hatte ich feststellen müssen, dass die Kleiderstange im Kasten irgendwann im Lauf des Tages durchgebrochen oder durchgerutscht war. Zunächst musste ich mir einmal ansehen, ob ich das überhaupt noch reparieren konnte. Oder, ging mir durch den Kopf, war es etwa nötig mir gleich einen neuen Kleiderkasten zu kaufen? Das hätte mir gerade noch gefehlt zu meinem Glück. Aber als allererstes durfte ich einmal den Kasten ausräumen, alle Kleider, die Bettwäsche, die Taschen,… Als ich halb in den Kasten hineinkletterte, um meine Sachen herauszuholen, stieß ich mir auch noch die Schulter an. Ich unterdrückte einen Fluch und bemühte mich, das Malheur einigermaßen sachlich und ruhig einschätzen.

Da fiel mein Blick auf ein Seidentuch am Kastenboden. Es war orange und naturfarben, wunderschön und einen Moment musste ich scharf überlegen, ob es überhaupt mir gehört. Bis mir blitzartig einfiel, woher ich es hatte. Vor meinem geistigen Auge stieg ein Bild vor mir auf, wie ich mit Beatrice durch den Londoner Covent Garden flanierte und an einem der Stände dieses wunderschöne Tuch erstand. Mein Gott, das war mindestens 10 Jahre her und einer je

ner Urlaube gewesen, die man am treffendsten mit „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“ kommentieren müsste. London, Wimbledon und Andre Agassi! Was hatte ich doch für Träume und Vorstellungen gehabt, als ich damals in dem namhaften Linzer Reisebüro stand und für Bea und mich für eine Woche buchte. Wir waren beide allein damals und riesige Tennis-Fans, weswegen ein Trip ins Tennis-Mekka an oberster Stelle unser Wünsche stand.

Aber selbst zu dem Zeitpunkt schien dieses Vorhaben schon unter einem schlechten Stern zu stehen. Die Sachbearbeiterin, die mich im Reisebüro betreute, war ja sehr nett, aber ihr Vertreter, mit dem ich mich wegen einer paar Detailfragen zusammensetzen musste, buchte eigenmächtig zwei Wochen, obwohl Bea und ich nur jeweils eine Woche frei bekommen hatten. Schon mit Bestimmtheit auf eine Korrektur dieses Irrtums zu bestehen kostete mich Nerven, weil sich der Mitarbeiter so absolut nicht schuldig fühlte. Ich muss gestehen, besonders gute Erfahrungen habe ich mein Leben lang nicht mit Reisebüros gemacht. Aber der Frust schwand, als ich endlich unsere Tickets für Wimbledon in der Hand hielt (Hätte ich damals schon geahnt, dass der Preis dafür stark überhöht war, hätte ich wohl im letzten Augenblick doch noch unser London-Abenteuer abgesagt!). Aber ich ahnte es nicht und wir packten unsere Koffer und machten uns auf dem Weg zum Bahnhof. Aus Preisgründen hatte ich nämlich einen Flug ab München gebucht, weswegen wir vor dem eigentlichen Beginn der Reise noch eine längere Zugfahrt nach „Minga“ auf uns nehmen mussten.

Vier Stunden später in der Weißwurstmetropole angekommen, machten wir uns mit der S-Bahn auf dem Weg zum neuen Flughafen „Franz Josef Strauߓ. Dort wurden gleich mit der Tücke des Flughafenpersonals konfrontiert, das uns Österreicher mit großer Freude auf Umwegen kreuz und quer auf einer Endlosschleife durch das neue Gebäude schickte. Im Nachhinein kann ich nur resümieren, dass es wohl dem reinen Zufall zu Verdanken war, dass Bea und ich schließlich doch am richtigen Schalter landeten und zeitgerecht einchecken konnten. Leider blieb dieses Missgeschick nicht das einzige Malheur an diesem Tag, im Gegenteil, es war nur die Ouvertüre… Unwillkürlich musste ich bei dieser Erinnerung schmunzeln, als mich das Telefon aufschreckte. Ich ging ins Nebenzimmer und hob ab. Meine Mutter war am anderen Ende der Leitung. Ich musste sie medizinisch beraten, weil mein Vater sich die Schulterpartie verkühlt hatte und sich deshalb kaum rühren konnte.

Eine Viertelstunde später hatte ich sie wieder beruhigt und ich konnte mich wieder dem Kleiderkasten widmen. Das Tuch hatte ich aufs Bett gelegt und während ich nun meine Kleidungsstücke herausräumte, begab ich mich in Gedanken wieder zurück ins Jahr 1992 und nahm mit Bea im Flugzeug nach London Platz. An den Flug selber kann ich mich kaum erinnern, außer dass wir beide das Herz in der Hose hatten, weil wir das erste Mal flogen. Das Essen war furchtbar, fast ungenießbar und bescherte mir Sodbrennen. Aber kurz vor 22:00 Uhr Ortszeit landeten wir schließlich in Heathrow und meinten beide übereinstimmend, jetzt das Ärgste überstanden zu haben. Bea äußerte sich sogar, sie freue sich schon auf’s Bett. Eine „kleine“ Fehleinschätzung von uns beiden. Denn nach der Pass-Kontrolle suchten wir den ganzen Flughafen vergeblich nach der Reisegruppe ab, die uns abholen sollte. Es war niemand da, niemand konnte uns Auskunft geben und natürlich konnten wir auch niemand in der Londoner Niederlassung des Reisebüros erreichen. Wir zwei waren der Verzweiflung nah.

Bea war so fertig, dass sie am liebsten sofort wieder zurückgeflogen wäre. Da hatte ich die Idee, meine englische Freundin Annette anzurufen. Annette ist in London geboren und ich hatte sie kennen gelernt in der Zeit, als ich ein paar Jahre in Salzburg verbracht hatte. Aber ich erreichte Annette nicht

. Was ich damals nicht ahnte: sie war – um unser „Glück zu komplettieren – auch auf Urlaub, in Italien. Schließlich beschlossen Bea und ich – die Adresse des Hotels hatten wir ja – uns mit den öffentlichen Verkehrsmitteln auf die Suche nach dem Hotel zu machen. Aber die kleine Seitenstraße kannte kein Londoner als wir den Bus verlassen hatten und die Leute anredeten. Laut Stadtplan mussten wir zwar ganz in der Nähe sein, und – wie wir tags darauf feststellten – wir sind sogar einmal direkt an der Straße vorbeimarschiert, ohne dass es uns auffiel. Aber die Sterne waren in dieser Nacht einfach gegen uns. Dafür verirrten wir uns zu Fuß in einige weniger noble Stadtteile, sodass ich heute noch Gott danke, dass uns von den Furcht einflößenden Gestalten, die unseren Weg kreuzten, keiner überfallen hat. Aber schließlich hatten sogar die Sterne ein Einsehen und schickten uns einen Engel in Gestalt von Mechmed, einem jungen Pakistani.

Lautes Klirren ließ mich in die Realität zurückkehren. Ich ging in die Wohnküche und konnte aus dem offenen Fenster beobachten, wie ein fluchender Autofahrer ausstieg und den Schaden begutachtete, den er an einem parkenden Wagen verursacht hatte. Bald standen ein paar Leute um ihn herum und unterhielten sich lautstark über den Parkunfall. Ich verlor schnell das Interesse und schloss das Fenster wieder.  Zurück im Schlafzimmer war ich bald wieder im Banne der Erinnerungen. Mechmed, der junge Mann, gabelte uns in der Nähe einer Telefonzelle auf, wo wir vergeblich ein Telefonbuch gesucht hatten, um wenigsten das Hotel anrufen zu können. Der Pakistani, so stellte sich heraus, fuhr als illegaler Taxifahrer durch London und bot uns sofort seine Hilfe an. Zwar musste auch er nach dem Weg zum Hotel fragen, und ohne Zweifel hat auch er uns gelinkt, weil ich sicher zweimal merkte, dass er im Kreis fuhr, aber seinen Fahrpreis, den er uns schließlich abknöpfte: 20 Pfund, hat er sich meiner Meinung nach trotzdem redlich verdient. Denn genau um 3:30 morgens – man merke: um 22:00 Uhr waren wir in Heathrow angekommen – setze er uns vor dem Hotel ab und trug sogar noch unsere Reisetaschen hinein.

Wir konnten es fast nicht glauben. Wir waren wirklich im Hotel angelangt. Der Rezeptionist grinste uns blöde und etwas überrascht an, nachdem er unsere Hotelreservierung überprüft hatte. Dann bekamen wir unsere Schlüssel und konnten es uns tatsächlich noch im Bett gemütlich machen – was wir schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatten. Auf der Suche nach dem Hotel war uns übrigens ein Licht aufgegangen, warum von der Reisegruppe niemand auf uns gewartet hatte: die bestand nämlich nur aus Deutschen und die mussten als EU-Bürger keine Pass-Kontrollen über sich ergehen lassen. Es wäre wirklich zu viel verlangt gewesen, von unserem Reisebüro zu erwarten, dass man die Kollegen vorort darum ersucht, deswegen aus Rücksicht auf uns zu warten. Dafür formulierte ich in Gedanken schon eine geharnischte Beschwerde an das Reisebüro, das war das letzte was ich dachte bevor ich einschlief.

Gott sei Dank fiel mir rechtzeitig ein, dass es nur bis 10:00 Uhr Frühstück im Hotel gab. Unsanft rüttelte ich Bea am nächsten Morgen deswegen aus dem Schlaf. Mein Hunger war mittlerweile enorm: die halbe Nacht durch London gewandert, seit 1 ½ Tagen nichts gegessen, also freute ich mich aufs Frühstück. Der Appetit verging mir schnell wieder: der Kaffee schmeckte nicht besonders, das Gebäck war alt und trocken und einzig der Orangensaft war in Ordnung. Von dem allein konnte man aber nicht leben. Bea verzog angesichts des süßlich schmeckenden Weißbrotes das Gesicht. Ich musste ihr recht geben: es schmeckte nicht wie unser Brot. Deshalb machten wir uns als erstes auf die Suche nach einem Geschäft, wo wir uns versorgen konnten. Aber außer Cola und etwas Obst fand ich nichts, was unser Gaumen ertragen hätte. Also rauchten wir um den Hunger zu dämpfen und tranken Cola dazu. Mittlerweile hatten wir uns auch in unserem Zimmer umgesehen: das Fenster ließ sich nur dann öffnen, wenn wir ein Glas oder sonst einen Gegenstand darunter schoben. Ein großes, altes Fernsehgerät dominierte den Raum: es war festgenagelt und funktionierte nicht. Wir fragten uns, warum man es überhaupt festgemacht hatte.

Mittags machten wir uns auf den Weg nach Wimbledon. Auch das geriet zu einer Komödie der Irrungen: entweder war mein Englisch so schlecht oder die Leute hatten selber keine Ahnung. Ich sank in dieser Zeit erheblich in Beas Wertschätzung. Sie hatte vorher gemeint, bei meinem guten Englisch würde es kein Problem darstellen, sich in London durchzuschlagen. Und ich selber lernte, dass es halt doch ein Unterschied ist, ob man sich ein paar Popsongs übersetzt oder ob man sich mit einem waschechten Londoner unterhält, der keine Veranlassung sieht, wegen eines Touristen, gepflegtes und verständliches Englisch zu sprechen. Allein, wir schafften es nach Wimbledon, wir fanden wider Erwarten sehr rasch unsere Plätze und erfreuten uns am Match der Tennis-Asse Jeremy Bates, dem Lokalmatador, und Guy Forget. Es dauerte einige Zeit, bis wir bemerkten, dass die Engländer um uns ziemlich ungehalten blickten, weil wir dem Franzosen, der schließlich auch siegte, lauthals zujubelten. Die Erdbeeren schenkten wir uns wegen der Preise, aber dafür lief uns der damals blutjunge Pete Sampras über den Weg. Das versöhnte uns mit vielem und tröstete uns über einiges hinweg.

Endlich hatte ich die ganze Wäsche aus dem Kasten geräumt. Ich holte die Kleiderstange heraus und sah sie mir prüfend an. Es dauerte nur wenige Minuten um festzustellen, dass sie nicht nur nicht gebrochen war sondern dass es nur wenig Aufwand bedurfte um sie wieder im Kasten zu befestigen. Nach kurzem Werken prüfte ich die Stange auf Festigkeit. Ich war zufrieden mit meiner Arbeit, das musste wieder halten. Kleiderbügel um Kleiderbügel begann ich die Kleidungsstücke zurück zu hängen… Ich war wieder mit Bea in London und wir schlenderten durch die Straßen. Wie fast überall kaufte ich eine Unmenge an Ansichtskarten, und unserem Vater hatte ich versprochen, ihm eine von der Tower Bridge mitzunehmen. An der Tower Bridge selber verliefen wir uns wieder, wie  so oft. Es schien mir fast so, als hätten wir damals in London bei jeder Unsicherheit fast von selbst den falschen Weg oder die falsche Richtung eingeschlagen. Andererseits fiel mir auch ein, dass wir selber einmal unabsichtlich eine Gruppe Japaner in die falsche Richtung geschickt hatten, als sie Buckingham Palace suchten. Trotzdem bekamen wir einiges zu sehen, wir konnten ein paar hübsche Reiseandenken erwerben und schließlich hieß es Ende der Woche: Bitte 13:00 Uhr Zimmer räumen, Sie werden zum Flughafen abgeholt.

Endlich lernten wir auch den Vertreter der hiesigen Niederlassung des Reisebüros kennen. Ich hatte schon einiges auf den Lippen um ihm zu erklären, was ich von einem Reisebüro hielt, dass seine zahlenden Gäste nicht vom Flughafen abholt. Aber Bea sah mir an, was ich vorhatte. Sie zischte mich an: „Lass es um Gottes Willen bleiben! Ich will jetzt keinen Verdruss!“ Also schwieg ich, denn Bea hat mich gut erzogen. An den Rückflug erinnere ich mich gar nicht mehr, das Essen ließ ich nämlich diesmal aus: es sah genau so unappetitlich aus wie beim Hinflug und deshalb sparte ich mir auch das Sodbrennen. Fassungslos vor Glück sti

egen wir in München aus der Maschine. Geschafft, dachte ich, aber wieder hatten wir uns zu Früh gefreut. Die besondere Tücke lauerte diesmal im Zug nach Linz. Wir ließen uns in einem Abteil eines Wagons nieder, der in Salzburg abgekoppelt wurde, ohne dass uns das Zugpersonal darauf aufmerksam gemacht hätte, obwohl es ständig im Zug hin und her lief. Wir hatten lange Zeit keine Ahnung was los war, und schließlich landeten wir völlig genervt mit zwei Stunden Verspätung in Linz. Ein paar Wochen später konnte ich in einem Artikel in den OÖN nachlesen, dass es in diesem Zug spätabends von München ständig vielen Fahrgästen so wie uns ging. Aber die ÖBB scherte es wohl nicht…

Bea und ich nahmen ein Taxi, auf den Zug heim wollten wir jetzt nicht mehr warten. Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen – das traf auch auf uns zu, allerdings war es nicht das Angenehmste, was wir so resümieren konnten. Ich schrieb auch einen Brief ans Reisebüro, wie ich mir vorgenommen hatte, in dem ich alle Pannen bis zur überhöhten Eintrittskarte für Wimbledon anprangerte. Dem feinen Unternehmen war ich nicht einmal das Porto für eine Antwort wert. Aber trotzdem: nach ein paar Monaten konnten Bea und ich darüber lachen. Zumindest über das Meiste. So viele Pannen, das war ja fast schon ebenso gut wie so viel Glück. Das muss der Mensch auch erst einmal haben. – Ich sah erschrocken auf die Uhr: fast halb acht, die Nachrichten würden gleich beginnen. Gerade wollte ich in die Wohnküche gehen, als ich auf dem Bett noch das Seidentuch aus London liegen sah. Langsam griff ich danach, schlang es um meine Hände. Dann öffnete ich den Kasten, legte es hinein und schloss die Tür wieder.

Vivienne

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