von Vivienne – Juli 2004
Die Diagnose
Reinhard keuchte, als er die schmale Straße zu seinem Wohnblock entlangging.
Mit zittrigen Fingern sperrte er die Eingangstür auf.
Kontrollierte mechanisch, ob er Post bekommen hatte.
Warf die Werbung unten noch weg.
Während er auf den Lift wartete, verspürte er das Bedürfnis nach einer Zigarette.
Im vierten Stock stieg er aus.
11.
Er stand vor seiner Wohnungstür.
Reinhard stellte im Flur seinen Aktenkoffer ab.
Zog die Schuhe aus.
Lief ins Badezimmer.
Dort hielt er den Kopf unter den Wasserhahn.
Das Wasser lief Minuten.
Reinhard hatte das Gefühl wieder einigermaßen klar denken zu können.
Er ging ins Wohnzimmer.
Holte Mineralwasser aus dem Kühlschrank und füllte sich ein Glas ein.
Er setzte sich auf die Couch und dachte nach.
Der Hausarzt sah Reinhard angespannt an.
Wie lange haben Sie den Husten, sagen Sie?
Reinhard überlegte.
Ich weiß nicht genau.
Vielleicht zwei Monate.
Vielleicht auch länger.
Er ist auch nicht immer gleich stark.
Aber er war halt nie ganz weg.
Der Arzt musterte Reinhard durch seine Brille.
Haben Sie abgenommen in letzter Zeit?
Reinhard stutzte.
Was hatte das damit zu tun?
Jetzt wo Sie es sagen
Fünf, sechs Kilos werden es wohl gewesen sein seit Jahresanfang.
Ich merke es an den Hosen.
Der durchdringliche Blick seines Arztes verwirrte ihn.
Ich schreibe Ihnen eine Überweisung zu einem Kollegen.
Für ein Lungenröntgen.
Dann sehen wir weiter.
Machen Sie gleich einen Termin aus.
Reinhard blickte den Überweisungsschein leicht befremdet an.
Auf dem Couchtisch lag das Telefonbuch.
Reinhard blätterte darin.
Wo wohnte Gerda jetzt?
Irgendwo in der Nähe von St. Valentin.
Konnte das so schwierig sein?
Eine simple Telefonnummer herausfinden?
Minuten später quälte er sich mit der Telefonauskunft.
Was kann ich für Sie tun?
Honigsüß die Stimme.
Nach fünf Minuten noch immer kein Ergebnis.
Verärgert legte er auf.
Schließlich kramte er sein altes Adressbuch hervor.
Vielleicht wusste ja Beate, wo sie wohnte.
Hatte vielleicht sogar ihre Nummer.
Automatisch griff er in die Hosentasche und holte seine Zigaretten hervor.
Er realisierte das erst, als er schon eine anzünden wollte.
Verwirrt legte er das Päckchen beiseite.
Nein.
Keine Zigarette.
Reinhard saß in der Ordination des Lungenfacharztes.
Das Wartezimmer war gestopft voll.
Er musste ziemlich lange warten.
Ein paar dringende Fälle gingen vor.
Reinhard musterte die Patienten.
Menschen aller Altersklassen.
Manche sahen krank aus.
Waren erschreckend dünn.
Viele husteten.
Schließlich wurde er zum Röntgen aufgerufen.
Reinhard zog sein Hemd aus.
Seine Hose war wirklich weit geworden.
Das stimmte.
Minuten später stand er wieder draußen.
Nehmen Sie bitte Platz.
Die Röntgen Assistentin war betont freundlich.
Der Herr Doktor ruft Sie dann auf.
Das Warten schnürte ihm die Kehle zu.
Die Luft war trocken.
Er begann wieder zu husten.
Die Gesichter der Leute verschwammen vor seinem Auge.
In diesem Moment hatte er zum ersten Mal wirklich das Gefühl, dass etwas nicht mit ihm stimmte.
Die Sonne verschwand wieder hinter einer Wolkenbank.
Was für ein Sommer!
Reinhard stieg in den Bus und nahm Platz.
Er dachte an sein gestriges Telefonat mit Gerda.
Ganze 30 Sekunden hatte es gedauert.
Gerda hatte ihn nicht einmal ausreden lassen.
Du interessierst mich nicht mehr.
Es ist mir egal was mit dir ist
Es war ihr egal.
Naja.
Irgendwie konnte er es ihr nicht verübeln, dass sie so grob war.
Die Ehe war nie glücklich gewesen.
Und er hatte viel gearbeitet.
Immer schon.
Wenig Zeit für seine hübsche Frau
Der Bus war fast leer.
Kein Wunder an einem Freitag nach 18:00 Uhr.
Kurz vor seinem Block war noch eine Trafik.
Er kaufte ein paar Zeitschriften.
Heute keine Zigaretten?
Die Trafikantin, aufmerksam wie immer, war neugierig.
Nein danke.
Reinhard verspürte leichte Übelkeit.
Der Arzt rief Reinhard auf.
Setzen Sie sich.
Eine Reihe von Fragen folgte.
Wie die, die ihm sein Hausarzt neulich schon gestellt hatte.
Dann horchte er Reinhard ab.
Sehr lange.
Dann nahm er wieder Platz.
Sie haben einen Schatten auf der Lunge.
Rechts, relativ weit unten.
Der Arzt vermied es Reinhard anzusehen.
Ich überweise Sie ins Spital zur genauen Abklärung.
Sie haben einen Schatten
Reinhard erschrak.
Er war nicht dumm.
Er wusste, was das hieß.
Er wusste es genau.
Daher der Husten, der nicht aufhörte.
Deshalb auch der Gewichtsverlust.
Er hatte Krebs.
Daran bestand nicht der geringste Zweifel.
Zur Abklärung ins Spital
?
Das war ja wohl eine Phrase.
Er hatte Krebs.
Mit wenig Heilungschancen.
Wahrscheinlich würde er sterben.
Schon sehr bald
Doris setzte sich in der Kantine zu Reinhard.
Was ist eigentlich los mit dir?
Du musst ins Spital?
Das musst du mir erklären.
Reinhard blickte genervt vom Mittagessen auf.
Musste das sein?
Er mochte Doris.
Er mochte sie sogar sehr.
Aber er wollte nicht darüber reden.
Wo er doch ohnedies schon alle Lebensfreude verloren hatte!
War es notwendig, dass es alle wissen?
Aber Doris ließ nicht locker.
Reinhard resignierte.
Der Schrecken in ihrem Gesicht erstaunte ihn.
Er hatte nicht erwartet, dass es sie so traf.
Hatte sie ihn vielleicht sogar gern?
Er sah Doris an.
Ihre verwirrenden, graugrünen Augen.
Und ihre schönen, schmalen Hände.
Gib dich noch nicht auf!
Doris sah ganz traurig aus
Reinhard lag nun den dritten Tag im Spital.
Unzählige Röntgen.
Computertomographien.
Ein paar üble Untersuchungen.
Und noch immer wusste er nichts Endgültiges.
Auf der einen Seite war er sich sicher, dass sein Fall hoffnungslos war.
Andererseits wusste er nichts mit Bestimmtheit.
Die Ungewissheit quälte ihn.
Dass sein Mitpatienten im Zimmer alle Krebs hatten, zermürbte ihn.
Er sah auf die Uhr.
Erst halb zehn.
Die Visite kam erst um 11:00 Uhr.
Frühestens.
Um vielleicht dann Genaueres zu erfahren.
Endlich.
Vielleicht gab es ja eine Therapie.
Lohnte es sich um sein Leben zu kämpfen?
Für Doris?
Reinhard schloss die Augen.
Er ertrug seine Gedanken nicht mehr.
Seine Gedanken die wie ein Klotz an seinem Bein hingen.
Sie verfolgten ihn bis in den Schlaf
Doris saß an ihrem Schreibtisch.
Das letzte Telefonat mit einem Kunden hatte ihr wieder den Rest gegeben.
Manchmal hasste sie ihren Beruf.
Sie nahm einen Schluck von ihrem schwarzen Kaffee.
Das Telefon läutete.
Nein.
Heute war ihr wieder einmal keine Pause gegönnt.
Genervt hob sie ab.
Reinhard du?
Wie gehts dir denn?
Leichte Sorge in ihren Worten.
Dann lauschte sie.
Minuten kein Wort von ihr.
Ihr Atem ging keuchend:
Doch kein Krebs?
Ein Entzündungsherd.
Chronische Bronchitis
Wasser im Gewebe.
Nichts Gutes.
Aber nichts Bösartiges
Doris zitterte vor Aufregung.
Du, ich bin so froh
Natürlich besuche ich dich heute Abend.
Ganz sicher
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