Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  Oktober 2004



Späte Einsicht

Christa Weiß stand vor ihrem Schreibtisch.
Er war leer.
Nur der Computer stand noch dort.
Tastatur und Maus.
Das Telefon.
Ihre Fotos hatte sie weggeräumt.
Ebenso ihren Kalender und die Schreibutensilien.
Christa stand da.
Konnte sich kaum lösen von dem Anblick.
Das war ihr letzter Tag hier.
Sie musste weg.
Strafversetzt sozusagen.
Irgendwohin in die Provinz.
Gmunden.
Neu anfangen.
Ich habe getan für dich, was ich konnte.
Die Stimme, von Walter Kurz, ihrem Vorgesetzten, hatte sehr unpersönlich auf sie gewirkt.
Dabei waren sie schon so lange befreundet.
So viele Jahre…
Und diese Sache mit diesem Mädchen…
Sybilla Severra.
Ende der Karriere.
Persona non grata.

Christa nahm ihre Tasche.
Und ging aus dem Büro, in dem sie zwanzig Jahre gearbeitet hatte.
Seit sie nach der Geburt ihrer Tochter wieder arbeiten gegangen war.
Aufgenommen wie in eine Familie.
Ihre Ehe hatte damals schon nicht mehr funktioniert.
Erwin war fast zwanzig Jahre älter als sie gewesen.
Und hatte andere Internessen als sie gehabt.
Sybilla hatte ihr eine schmerzhafte Wahrheit ins Gesicht gesagt.
Ihr Mann ist doch nur ein Vaterersatz für Sie gewesen!
Heftig war ihre Stimme gewesen.
Zornig.
Sie hatte auch gezittert.
Christa hatte ihr nicht ins Gesicht sehen können.
Aber die Worte taten weh.
Und rissen eine weitere Wunde auf.
Erwin war immer wieder fremdgegangen.
Nicht immer, aber bisweilen.
Und vor ihr das aufgebrachte Mädchen, das in dieser Wunde stocherte…

Am Flur traf sie die Sekretärin von Walter Kurz.
Geh, Margit, ist Walter zu sprechen?
Peinlich berührt blickte diese zu Boden.
Er hat keine Zeit.
Ich glaube nicht, dass du stören solltest…
Christa verstand.
Kein Abschied von ihm.
Sie ging nach draußen.
Langsam.
Sie wollte sich nicht von den anderen verabschieden.
Sie hatte die verstohlenen Blicke der Kollegen bemerkt.
Alle wussten, dass sie heute ihren letzen Tag hatte.
Dass sie mit Glück der Kündigung entgangen war.
Doch keiner sagte ein Wort.
Keine Feier.
Christa blickte nach oben.
Der Himmel war bewölkt.
Dazwischen blinzelte zuweilen die Sonne durch.
Ein Hauch von blauem Himmel.

Frau Weiß stieg in ihr Auto.
Gurtete sich an.
Aber sie hatte keine Kraft wegzufahren.
Frau Sabine Pichler war eines Tages in ihr Büro gekommen.
Ich muss mit Ihnen reden.
Frau Weiß, es ist ganz wichig.
Sie, Christa, hatte noch geschmunzelt.
Aber dann war sie ganz Ohr gewesen.
Die Severra stiehlt.
Ich weiß, dass es so ist.
Als neulich die Kasse offen geblieben war, fehlten über 50 Euro.
Und aus meiner Handtasche sind auch etwa 60 Euro verschwunden.
Frau Weiß nickte.
Was macht sie so sicher?
Frau Pichler lächelte hart.
Ihr Vater war doch vorbestraft.
Wahrscheinlich eine Familie der Diebe.
Außerdem hat sie sich neulich ein Auto gekauft.
Da ist Geld Mangelware.
Frau Pichler betrachtete ihre Fingernägel.
Dann blickte sie auf.
Ich sage es Ihnen, weil ich mir denke, sie lösen das intern.
Sorgen dafür, dass sie von selber geht.
Frau Pichler hob die Stimme wie die Augenbrauen.
Sonst gehe ich zum Chef…

Frau Weiß ließ sich die Vorfälle noch einmal schildern.
Gut.
Wir stellen ihr eine Falle.
Sie lassen die Kasse offen.
So, das sie es merkt.
Und dann schnappen wir uns das Früchtchen.
Christa presste die Lippen aufeinander.
Sie mochte die Severra nicht.
Nicht im Geringsten.
Sie war auch gegen die Einstellung dieses Mädchens gewesen.
Aber abgesehen davon.
Wenn sie stahl, dann hatte sie zu gehen.
Ihr Chef verließ sich auf sie, Christa.
Sie war seine rechte Hand.
Eine weitere Chance, ihm zu beweisen, wie unverzichtbar sie war.
Christa lächelte.
Sie wusste, wie man solche Situationen löste.

Drei Tagte später wurde die Falle aufgestellt.
Alle wussten Bescheid.
Zehn Minuten war Sybilla mit dem Geld allein.
Dann kehrte Frau Pichler wieder.
Eine Minute später der Anruf bei Frau Weiß.
100 Euro fehlen in der Kasse…!
Eine weitere Minute später war Frau Weiß in dem Büro.
Zielsicher trat sie auf den Schreibtisch der Sybilla Severra zu.
Und griff deren Handtasche.
Sie erlauben doch…
Einen Moment war Sybilla völlig baff.
Dann sprang sie auf.
Sind Sie wahnsinnig geworden…?
Sie riss Frau Weiß ihre Tasche aus der Hand.
Christa lächelt böse.
Wenn Sie es unbedingt so wollen…
Sie winkte dem Kollegen.
Halten sie die Diebin fest.
Ich ertappe sie gerade auf frischer Tat.
Sybilla bekam große Augen.
Als der Kollege sie packte, begann sie zu schreien.
Laut und vernehmlich.
Christa kramte in der Tasche.
Im Geldbörsel ein wenig Kleingeld und ein 10 Euroschein.
Ungläubig suchte sie weiter.
Taschentücher.
Tampons.
Führerschein.
Handy.
Zuckerl.

Sybilla schrie aus Leibeskräften.
Sie wehrte sich gegen den Kollegen.
Ohne Chance.
Frau Weiß suchte angestrengt weiter.
Nichts.
Sie wurde blass.
Vielleicht hat sie es am Körper.
Sie begann in der Hosentasche der jungen Frau zu suchen.
Als die Tür aufging.
Walter Kurz traute seinen Augen nicht.
Was zum Teufel ist hier los?
Fünfzehn Minuten später war klar, dass Sybilla nie etwas genommen hatte.
Frau Pichler selber hatte das Geld verschwinden lassen.
Frau Pichler schluchzte.
Sie hat mir doch den Freund weggenommen…
Herr Kurz warf sie noch in derselben Stunde aus der Firma.
Das hatte es überhaupt noch nie gegeben.
Frau Weiß war völlig am Boden zerstört.
Als sie der Chef dann in sein Büro holte, war er ungewöhnlich kalt.
Ich will keine Ausreden hören…
Was ist in dich gefahren?
Im Grunde müsste ich dich auch entlassen.
Fristlos.
Auf eine bloße Behauptung hin so etwas…
Du hättest mit dem Mädchen zuerst reden müssen!!!
In Gmunden wirst du Zeit haben, nachzudenken, wie weit man in deiner Position gehen kann.
Ich will dich hier nicht mehr sehen!

Christa saß noch immer im Auto.
Angeschnallt.
Sie hatte versucht, danach mit dem Mädchen zu sprechen.
Sybilla hatte sie aber nur beschimpft.
Sie war völlig fertig.
Kämpfte mit Weinkrämpfen.
Und verließ schließlich Christas Büro.
Zwei Tage später kündigte sie.
Christa blickte zu Boden.
Sie hatte sich von Frau Pichler willig zu deren Werkzeug machen lassen.
Die Aussage über Sybillas Vater hatte sie, Christa, überzeugt.
Dabei war das auch ganz anders gewesen.
Ein Verkehrsunfall nämlich…
Aber was spielte das jetzt noch eine Rolle.
Sybilla.
Der Name würde sie in Hinkunft begleiten wie eine dunkle Wolke.
Sie, Christa, die immer in der Sonne gestanden hatte…
Die Kollegen würden nur mehr mit Verachtung über sie reden.
Vom Karriereeinbruch erst gar nicht zu reden…
Wie konnte ausgerechnet ihr nur so etwas passieren?
Christa fühlte sich wie gelähmt.
Wortlos starrte sie aus der Windschutzscheibe.
Es begann zu regnen.

Vivienne

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