von Vivienne – November 2004
Weg vom alten Trott
Ilse sperrte ihre Wohnung auf.
Ihr Gesicht wies Tränenspuren auf.
Wütend warf sie ihre Handtasche auf das Sofa.
Ging ins Bad.
Nahm die Ohrringe ab.
Ihre Wangen glühten.
Sie wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser.
Nach ein paar Minuten fühlte sie sich besser.
Sie zog sich aus.
Unter der Dusche kehrte ihr klares Denken wieder zurück.
Die Tränen versiegten.
Sie trocknete sich ab.
Dann blickte sie in den Spiegel.
Sie war pummelig.
Die üblichen Problemzonen einer Frau.
Breite Hüften.
Dicke Schenkel.
Zellulitis.
Ein kleiner Bauchansatz ließ sich nicht leugnen.
Ilse wandte sich ab.
Eine Viertelstunde später trank sie einen Mokka.
Ganz stark.
Sie würde vermutlich nicht schlafen können.
Aber das war ihr im Moment egal.
Sie saß in ihrem bequemen Lesesessel.
Eine Klassik-CD lief leise.
Mozart.
Bin ich alt?
Der Gedanke kam immer wieder.
Bin ich hässlich?
Muss ich froh sein, wenn mich ein Mann ansieht?
Oder ist der Zug ohnedies längst abgefahren?
Du bist zu alt.
Und nicht attraktiv.
Und außerdem redest du zuviel.
Ein Mann braucht eine Frau die zuhört.
Und keine, die selber denkt.
Oder war das nur Chauvinismus pur?
Ilse lehnte sich zurück.
Und öffnete sich wieder dem Abend im Lokal
Zu siebt saßen sie an dem Tisch im Restaurant.
Ihre drei besten Freundinnen.
Und deren bessere Hälften.
Sie war die einzige ohne Mann gewesen.
Oder zumindest ohne Begleiter
Diese Treffen hatte sie, Ilse, nie geliebt.
Egal mit welcher der drei.
War der Gatte dabei, fühlte sie sich minderwertig.
Wie das fünfte Rad am Wagen.
Und heute geballte Männlichkeit.
Jeder Topf findet seinen Deckel.
Fein.
Für sie gab es offenbar keinen Passenden.
Ilse rekapitulierte ihre vergangenen Beziehungen.
Keiner dabei, der sie wirklich geschätzt hätte.
Aber mochte sie sich selber überhaupt?
Des Pudels Kern
Die Speisekarten.
Ilse nahm nur einen Salat.
Die anderen protestierten.
Nun iss doch was Ordentliches!
Anne legte ihr die Hand auf den Unterarm.
Ilse schüttelte den Kopf.
Nein.
Ich hab wieder zugenommen.
Das muss auf jeden Fall runter.
Elke lächelte liebevoll.
Geh!
Weißt.
Ich kann mir dich so wie so gar nicht anders vorstellen.
Ein Satz wie eine Ohrfeige.
Von der dummen Elke.
Trotzdem tat er nicht weniger weh.
Der Kellner stand da.
Sie haben gewählt?
Ilse legte die Speisekarte zur Seite.
Ich nehme den Salat.
Und ein Glas Mineral.
Elke biss sich auf die Lippen.
Spät hatte sie doch begriffen.
Das Gespräch plätscherte dahin.
Margit wartete mit einer Neuigkeit auf.
Ich bin wieder schwanger.
Ihr Mann strahlte.
Ilse nippte am Mineral.
Sie erinnerte sich an ihre Fehlgeburt.
War es schon acht Jahre her?
Oder erst sieben
?
Der Vater des Babys hatte sie drei Wochen zuvor verlassen.
Hatte nicht sollen sein
Elke prostete ihr zu.
Auf dich!
Kannst froh sein, dass man in deinem Alter nicht mehr schwanger wird
Ilse starrte Elke ungläubig an.
Sie ließ nie ein Fettnäpfchen aus.
Aber heute hatte sie es wohl auf sie abgesehen
Sie schob den Salat beiseite
Irgendwie hatte sie keinen Hunger mehr.
Margits Mann bestellte Wein.
Zur Feier des Tages.
Ihr trinkt doch alle mit?
Ilse winkte ab.
Nein.
Ich bin mit dem Auto da.
Da trinke ich nie.
Elke winkte ab.
Sei doch kein Frosch!
Pass auf.
Wir finden heute schon noch einen netten Mann für dich!
Der bringt dich heim.
Aber vergiss nicht, nett zu ihm zu sein?
Ja?
Ilse sprang auf.
Mir reichtss!
Elkes Lächeln gefror.
Was ist denn los?
Ilse winkte dem Kellner.
Zahlen bitte!
Die Spannung war spürbar.
Betretene Gesichter.
Anne brach das Schweigen.
Bist du nicht ein wenig empfindlich heute?
Elke hat dich sicher nicht absichtlich verletzt.
Reden wir doch über deine Probleme
Ilse stand auf und ging.
In der Tiefgarage hatte sie fünf Minuten nur geweint.
Dann hätte sie fast das Auto nicht starten können.
Ilse öffnete wieder die Augen.
War sie wirklich empfindlich?
War es nur der Neid auf die glücklichen Freundinnen?
Was heißt Freundinnen
Im Grunde kannte sie die drei schon Jahre.
Man hatte einmal gemeinsam in einer Firma gearbeitet.
Die Firma war pleite gegangen.
Und Elke hatte sie im Grunde nie leiden können.
Ihre Dummheit war eine Heimsuchung.
Ilse spürte bei dem Gedanken Aggressionen in sich.
Die anderen beiden waren ihr im Lauf der Zeit auch fremd geworden.
Und trotzdem traf sie sich mit ihnen.
Regelmäßig.
Aus Gewohnheit.
Und wen hätte sie denn sonst treffen sollen?
Die Kollegen waren nett.
Aber es bestand keine tiefe Bindung.
Die Nachbarn waren hilfsbereit.
Aber ahnten sie, was in ihr vorging?
Die Einsamkeit fraß sie auf
Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird.
Aber es muss anders werden, damit es besser werden kann
Lichtenberg
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