von Vivienne – November 2004
Die Ballade von der Mutprobe
Ein alter Mann ging mit seinen beiden Enkeln spazieren.
Der größere der beiden war seinem Großvater immer ein Stück voraus.
Er genoss den Spaziergang auf dem Land.
Es gab so viel zu entdecken, was er in der Stadt nie zu sehen bekam.
Schließlich stand er vor einer tiefen Schlucht.
Es reizte ihn hinunter zu klettern.
Was würde er zu erzählen haben, wenn er wieder heim kam!
Aber sein Großvater rief ihm zu.
Vorsicht!
Da geht es ganz steil nach unten.
Du könntest dich verletzen!
Außerdem trägst du nicht die richtigen Schuhe!
Der Bursche zog enttäuscht eine Grimasse.
Wie unfair!
Ich klettere doch so gerne!
Der Großvater legte seinen Arm auf die Schulter seines Enkelsohnes.
Das hat nichts mit Mut zu tun.
Ganz im Gegenteil.
Es wäre völlig unüberlegt.
Und dumm
Er setzte sich weiter vorne ins tiefe Gras.
Seine beiden Enkel kauerten sich an seine Seite.
Dort hinunter zu klettern ist nicht mutig.
Ihr seid noch jung.
Ihr versteht das vielleicht nicht.
Aber ich bin ein alter Mann.
Und ich habe eine Geschichte für euch
Der Großvater kramte seine Erinnerungen heraus.
Seine Enkel musterten ihn interessiert.
Sie wartete gespannt auf das, was ihr Großvater zu erzählen hatte
Ich war nicht viel älter als ihr.
Damals lebte ich in einer anderen Stadt.
Weit weg von hier.
Die Stadt war noch recht neu.
Und es gab einige tiefe Gräben zwischen den Alteingesessenen und den Zugezogenen.
Diese Leute rivalisierten miteinander.
Und bei den jungen Burschen gab es Gruppen auf beiden Seiten.
Die immer wieder nächtens durch die Straßen zogen.
Miteinander stritten.
Und sich Streiche spielten.
Manchmal prügelten sie sich auch.
Aber es gab auch einen merkwürdigen Ehrenkodex.
Keine der Gruppen schwärzte die andere an.
Man machte sich alles untereinander aus
Und auch ich gehörte zu einer dieser Gruppen.
Obwohl ich noch so jung war
Eines Sommerabends hatte sich die Situation zwischen den Gruppen ziemlich zugespitzt.
Eine Prügelei schien förmlich in der Luft zu liegen.
Als der Führer der anderen Gruppe einen provokanten Vorschlag machte.
Wir sollten uns alle an einem kleinen Wäldchen am Rande der Stadt treffen.
Dort befand sich ein sehr hoher Jägerstand.
Und der besagte Bursche forderte die anderen zu einer Mutprobe heraus.
Er selbst wolle auf den Jägerstand klettern.
Und hinunter springen.
Und der Führer der anderen Gruppe sollte es ihm gleichtun.
Der Bursch, der der Kopf unserer Truppe war, hörte sich den Vorschlag ruhig an.
Er musterte den Jägerstand prüfend.
Ich konnte förmlich seinem Blick folgen,
Der Blick, der von oben nach unten ging.
Und wieder nach oben.
Dann schüttelte er den Kopf.
Das mache ich sicher nicht.
Sein Gegenspieler blickte ihn verächtlich an.
In seiner Stimme lag aber auch Triumph.
Feigling.
Ich werde dir zeigen, wer von uns beiden mutig ist.
Unser Anführer ließ sich keinen Ärger anmerken.
Dann tu es doch
wenn du dich für mutig hältst.
Ein Blitz schien ihn aus den Augen des Gegners zu treffen.
Du wirst schon sehen
!
Wir verfolgten atemlos, was er tat.
Ich selber schämte mich im ersten Moment für unseren Kopf.
Es schien mir eine furchtbare Schande zu sein, der Mutprobe auszuweichen.
Behende erreichte der Herausforderer inzwischen das Ende der Leiter.
Dann stieg er in den Jägerstand.
Kletterte auf die Umgrenzung.
Blickte noch einmal um sich.
Und ließ sich fallen.
Sekunden später sein Aufprall.
Fast zeitgleich der Schmerzensschrei.
Ich weiß nicht mehr, wer den Arzt verständigte.
Aber der mutige Bursche hatte sich das Bein gebrochen.
Er lag lange im Spital.
Wo er über seinen Mut nachdenken konnte.
Sehr viel länger dauerte es bis ich begriff.
Was den Mut unseres Anführers ausmachte.
Und dass es oft sehr viel mehr Mut bedarf, eine Herausforderung abzulehnen.
Als sich ihr sinnlos auszuliefern.
Sinnlos und dumm.
Der junge Mann von der anderen Gruppe hätte sterben können.
Versteht ihr?
Der alte Mann war mit seiner Geschichte fertig.
Er blickte seine Enkel lächelnd an.
Die beiden hatten eine Lektion erhalten
was Mut erst wirklich ausmacht.
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