Neurotischer Dauerlauf

An einem Wochenende, an einem schönen Tag, die Sonne lächelte wie ein Kind durch Wolkenpaare, nahmen zwei Dauerläufer die Strecke an einem Fluss am Rande der Stadt in Angriff. Sie standen auf einer Brücke, die mächtig und stark über jenen Fluss ragte, jetzt um ungefähr sieben Uhr in der Frühe. Keine lärmenden Straßenkreuzer waren zu hören, die ansonsten über die Brücke hin wegfegten und den Moment der Ruhe störten, den ein „neurotischer Läufer“, als Voraussetzung braucht, um in der paradiesischen Umgebung der stillen Natur, die Synthese aus Neurose und körperlicher Ertüchtigung zu erlangen. Der Ältere der beiden Läufer, dem schon durch eine leicht gebückte Haltung, eine Neurose anzuhaften schien, vielleicht in einer Art und Weise eines Hypochonders, hatte ein blasses, beinahe kalkweises Gesicht und schmale Lippen, die ihm ein bitteren Ausdruck verliehen. Der andere Läufer hingegen, der zudem jünger war und größer war und durch stechend blonde Haare auffiel, die ihm Kraft und Würde verliehen, der glänzende Zähne und blaue Augen hatte, verhüllte die depressive Aura des anderen Läufers, der sich schon am Brückengeländer abstützte und mit matten Augenpaaren auf den Fluss starrte. Nachdem eine priese frischen Windes über den Scheitelpunkt der Brücke wehte und weit und breit keine Menschenseele zu erkennen war, setzten sich die beiden Läufer in Bewegung. Sie liefen aber nicht zusammen, sondern getrennt von einander, jeder auf einer Seite des Flusses, aber in die gleiche Richtung laufend. Die Trennung der beiden Sportler, durch den breiten Fluss und die dadurch resultierende Entfernung, gaben dem „neurotischem Läufer“ aber erst das Maß an Distanz, um überhaupt einen zweiten Läufer neben sich ertragen zu können. Der andere Läufer, der frei von jedlicher Neurose, ungestüm und beinahe wild rannte wie der Sturm, konnte im eigentlichen Sinne nicht verstehen, welches sein „neurotischer Freund“ mit einer derartigen Maßnahme bezwecken wollte. Gelegentlich ärgerte er sich über das für ihn „sinnlose Laufen“, nebeneinander, das durch die Breites des Flusses, der zwischen ihnen stand, jedoch richtiger Weise keiner war, sondern wie er es nannte ein „neurotischer Zustand“, den er geradezu verteufelte. Er hatte ihm schon mehrfach zugerufen, das er doch über die nächste Brücke laufen solle, um dieses „lächerliche Spiel“ endlich zu beenden. Sein „neurotischer Freund“ schüttelte dann entweder nur wütend den Kopf oder flehte ihn an seine „Forderungen“ ad acta zu legen und drohte ihm anderenfalls mit dem Abbruch. Am heutigen Tage aber, hatte er sich fest vorgenommen, die kapriziöse Haltung, diese unerträgliche Sturheit seines „neurotischen Freundes“ zu unterbinden, der auf der anderen Seite des Flusses, träge und mit gesenktem Haupt, düster vor sich hin trabte. In einer viertel Stunde, wenn sich die nächste Brücke ankündigte, werde er zuschlagen und triumphierend hinüber laufen und ihm lachend in das weinerliche Antlitz schauen. Er stellte sich vor, wie sie dann Schulter an Schulter, sich schon fast berührend nebeneinander laufend sich zur Höchstleistung steigern würden, in einer Art „Rauschzustand“ hinein, der ihnen Flügel verleihen dürfte. In diese euphorische Gedankengänge schlichen sich, je näher die besagte Brücke in sein Blickfeld rückte, jedoch kritische Momente, die das Bild eines geglückten „Wiedervereinigung“ austradierten und erfüllten ihn sodann mit Angst und Schrecken. Er sah aus der Bedrückung heraus, nun rüber zu seinem Freund, den er auf gleicher Höhe zu laufen glaubte, im selben Rhythmus, in der selben Geschwindigkeit wie er, als wären sie mit einem dicken Seil, welches imaginär über den Fluss reichte, mit einander verbunden. Mit einem Male konnte er mit seinem Freund auf der anderen Seite des Flusses kommunizieren, ohne ein Wort zu sagen, nur durch die Gedanken hindurch, wie auch die Sonne am Himmel, die durch wärmende Strahlen , den Fluss umgarnte und ihn in ein grelles Leuchten tauchte. Er vergaß nun ganz und gar, das er zu ihm hinüber laufen wollte, als die Brücke, die sie verbinden sollte, stumm vor seinen Augen erschien, sie sich aber hinter dem gleißendem Licht der Sonne zu verstecken drohte.

Im Einklang einer Gedankenwelt die nur als „imaginär“ zu bezeichnen war, gleichwohl inmitten jenes Dauerlaufs, liefen sie dann weiter jeder auf einer Seite des Flusses , immer weiter geradezu im Einklang, in Raum und Zeit, in guten wie schlechten Zeiten und waren doch so unzertrennbar, wie Zwillinge, die sich ein Leben lang verbunden fühlen.

(C) Wilhelm Westerkamp

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