Wie gut kennt man einen Menschen?

Manchmal kennt man jemanden.
Vermeintlich lange.
Vermeintlich gut.
Glaubt ihn einschätzen zu können.
Zumindest im Wesentlichen.
Und doch.
Erst in Extremsituationen vermag man in das Herz eines Menschen zu blicken.
Wirklich.
Erst wenn es um heftige, negative Gefühle geht.
Hart auf hart.
Weiß man, mit wem man es zu tun hat.
Ganz genau.
Ohne Makulatur und ohne Schminke…
Einfach der nackte Mensch.

Manchmal ist es schmerzhaft.
Oder auch nur erstaunlich.
Auf diese Weise jemanden zu durchschauen.
Besser bisweilen, als man es durch tausend Begegnungen zuvor konnte.
Manchmal meint man.
Konnte man sich so irren?
Konnte man sich so täuschen lassen?
Aber solche Überlegungen zu einfach.
Jeder Mensch trägt eine Maske.
Oder auch mehrere.
Wie zum Auswechseln.
Für jede Situation eine andere.
Ich bestreite nicht.
Auch ich bin nicht immer ich selbst.
Ich maskiere mich öfter.
Als ich es bisweilen wahrhaben wollte.
Aber heute weiß ich.
Ich tue das vor allem zum eigenen Schutz.
Manchmal gibt es keinen anderen Weg…

Lassen Sie mich erzählen.
Vor Jahren hatte ich eine Kollegin.
Wir verstanden uns auf Anhieb.
Wurden fast Busenfreundinnen.
Fast…
Bis wir plötzlich an einem Scheideweg standen.
Eine unsichere, schwierige Situation.
Nicht leicht einzuschätzen.
Sie entschied sich gegen mich.
Sie verriet mich.
Ich verzieh ihr trotzdem nach einiger Zeit.
Wider des Gefühls in mir, das mich warnte.
Und wieder eskalierte unerwartet eine Situation.
Und wieder wandte sich gegen mich.
Wieder stieß sie mir das Messer in den Rücken.
Ohne zu zögern.
Da erst begriff ich.
Sie war nicht gut für mich.
Trotz aller schönen Worte zuvor.
Trotz aller Freundschaftsbeweise.
Und ich brach danach mit ihr.
Endgültig.
Einen dritten Verrat wollte ich mir nicht antun…
Sie bemühte sich aber nach längerer Zeit trotzdem wieder.
Auf Umwegen über eine gemeinsame Freundin.
Aber ich schmetterte diesen Versuch ab.
Ich hatte genug von ihren schönen Worten…
Die sofort zu Messerklingen wurden.
Wenn es Probleme gab…

Ich habe seither nichts mehr von ihr gehört.
Es zieht mich auch nicht zu ihr.
Sie fehlt mir nicht ein bisschen.
Nicht mehr als eine bittere Erinnerung…
Ich meide sie.
So wie man Wespen meidet.
Wenn man von einer gestochen wurde…
Nicht immer erkennt man eine Wespe, wenn man sie sieht.
Bisweilen vermag sie lange Zeit wie ein Schmetterling zu erscheinen.
Oder wie ein aparter Singvogel.
Erst der Stich entlarvt die Wespe.
Und klärt.
Freundschaft oder nicht.
Ehrlich oder nicht.
Vertrauenswürdig oder nicht.
Nicht immer kann man die Wespen meiden.
Nicht immer kann man davon laufen.
Aber man kann sich schützen.
Dafür braucht man bisweilen eine Larve.
Nach außen hin.
Vielleicht trägt man sie nicht gern.
Aber manchmal hat man keine Wahl…

© Vivienne

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