Zu wenig Zeit für ein Kind…

Alice Kern ist schon seit einigen Jahren eine Kollegin von mir. Sie arbeitet in der Rechnungsstelle unserer Firma, ist eine quirlige, sehr sympathische Person und ich kann sie recht gut leiden. Wie mittlerweile wohl fast jeder im Unternehmen weiß, wünscht sie sich ein Kind, im Grunde seit sie sechzehn Jahre alt ist, wie sie mir anvertraute, aber irgendwie klappte es nie. Zunächst schien es so, als würde sie einfach nicht den richtigen Mann an der Seite haben, mit dem sie sich über Nachwuchs drüber trauen hätte können. Aber mittlerweile ist sie fast fünf Jahre wirklich gut verheiratet, Felix, der Mann an ihrer Seite vergöttert sie, und Alice wird trotzdem nicht schwanger…

Bei einer Untersuchung im Spital wurden kürzlich Zysten am Eierstock festgestellt und von den Ärzten als mögliche Ursache für die ungewollte Kinderlosigkeit näher ins Auge gefasst. Demnächst soll Alice deswegen operiert werden, aber irgendwie habe ich so meine Zweifel, ob dadurch der Kinderwunsch der Kollegin und von deren Gatten erfüllt werden kann. Ich habe nämlich so meine eigenen Ideen, warum es bei Alice mit einem Baby nicht klappt, aber ich hüte mich natürlich, mich nach außen hin dazu zu äußern. Weil es mich nichts angeht und weil ich mit meiner Annahme schließlich nicht richtig liegen muss… Trotzdem sind mir ein paar Fakten aufgefallen, die aus Alice’ Leben sehr markant ins Auge stechen und ich sollte mich doch sehr wundern, wenn ich mit meiner Annahme nicht doch richtig liege…

Alice führt, so glaube ich, ein viel zu hektisches Leben, so dass sich ihr Körper indirekt gegen eine Schwangerschaft wehrt. Nicht nur, dass Alice in ihrem Beruf aufgeht wie keine zweite, ständig Überstunden macht und immer wieder auch am Wochenende in die Firma kommt. Alice nimmt sich genau genommen oft nicht einmal Zeit genug für ihren Mann, denn sie engagiert sich im Tennisverein, wo sie auch als Kassiererin fungiert, sie geht viermal in der Woche der Figur wegen ins Fitness Center und ihren großen Freundeskreis trifft sie auch regelmäßig wie oft. Alice, so erzählte sie mir selbst, schläft selten mehr als fünf Stunden in der Nacht und ehrlich gesagt: mir persönlich wäre das viel zu wenig. Aber Alice genügt das, ich glaube sogar, sie würde sich sonst im Bett nur langweilen, wenn sie länger schlafen könnte…

Sie schmunzeln? Tun Sie das nicht! Seit mir Alice von ihrem Urlaub letztes Jahr in Griechenland erzählte, lache ich nicht mehr. Alice und ihr Mann Felix hatten vierzehn Tage an einem griechischen Traumstrand gebucht, aber schon nach zwei Tagen bei strahlendem Wetter wurde es Alice zu langweilig, sich nur am Meer zu erholen und auszuruhen. Sie begann an Städtefahrten in der Umgebung teilzunehmen, mietete sich einen Jeep und erkundete die Umgebung auf eigenen Faust. Felix bekam im Urlaub seine Frau fast nicht mehr zu sehen. Beim Heimflug wirkte Felix sehr erholt, aber Alice war nach fast zwei Wochen Dauerstress noch müder als bei Urlaubsantritt. Und mir wurde deswegen erst klar, warum Alice vermutlich noch länger kinderlos bleiben würde – bis sie endlich anfangen würde, ihr Leben zu ändern…

Ohne es selber zu wollen beschäftigte ich mich daraufhin einige Zeit sehr intensiv mit Alice und ihrem Felix. Alice hat doch im Grunde in ihrem Leben gar keine Zeit für ein Kind! Es fiel mir wie Schuppen von den Augen! Alice würde ihr Leben völlig umkrempeln müssen, wenn sie ein Kind bekäme, aber so, wie sie ihre Freizeit momentan gestaltete, war das doch gar nicht möglich, denn ohne ihre verschiedenen Aktivitäten konnte und wollte die Frau doch gar nicht sein! Wenn ich ehrlich bin: ich habe meine Zweifel, ob eine oder weitere Operationen der Kollegin helfen werden, schwanger zu werden. Und ob eine Schwangerschaft überhaupt sinnvoll ist in diesem durchorganisierten Leben – bis sich entscheidende Dinge geändert haben!

Aber wie schon eingangs erwähnt: ich werde mich hüten, mit meiner Kollegin darüber zu sprechen. Sie könnte meine Einschätzung in die falsche Kehle bekommen, und vor allem bin ich mir sicher, dass ihr die Selbsteinschätzung fehlt, die Situation richtig zu deuten. Es ist nicht mein Problem, auch wenn ich es schade finde. Ich glaube nämlich, dass an sich Alice wirklich eine gute Mutter sein würde. Einem Kind würde es bei ihr und ihrem Mann an nichts mangeln, weder an Nestwärme noch an Zuwendung. Aber Alice nimmt sich – ohne es zu wollen – gar nicht die Zeit für ein Kind und darum wird es wohl noch dauern, bis sich ihr Wunsch erfüllt – und sie wird auch nicht jünger…

Nach einer wahren Begebenheit

© Vivienne

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