10. Kapitel: Allein

Ob sie gehen könne, hatten die Sanitäter sie gefragt.

Ja, hatte Constanze geantwortet.

Nein, hatte die Mutter gesagt, die Stefan auf dem Arm hatte, der große Augen machte und nervös an seinem Ärmelzipfel herumkaute. Ihr war schwindlig und sie war ganz blass, sagte sie.

Die Sanitäter hatten sich selbst ein Bild gemacht. Sie hatten ihren Bludruck gemessen, der niedrig, aber stabil war, sie hatten an ihr herumgetastet und herumgeleuchtet. Sie hatten ihr Fragen gestellt,von denen sie nicht alle hatte beantworten wollen. Schließlich hatten sie die Bahre aus dem Krankenwagen geholt und vor die Haustür gestellt; dann Constanze die wenigen Stufen von der Haustür zum Gehweg hinuntergeführt und sie auf die Bahre gelegt. Constanze hatte sich dort deplatziert gefühlt. Sie hatte keine Ahnung, was das noch bringen sollte. Die Nachbarschaft war schon zusammengelaufen, jeder stand vor seiner Haustür und starrte zu ihr hin.

Ihre Mutter stand neben ihr und berührte ihren Arm: Ich hol drinnen mal deinen Autoschlüssel. Wenn ich Thomas nicht bald erreiche, muss ich Stefan mit ins Krankenhaus nehmen. Rebekka erreiche ich auch nicht. Ich brauche dann eurer Auto wegen des Kindersitzes. Ich mach Stefan noch schnell ein Fläschchen Fencheltee zum Mitnehmen. Das dauert dann vielleicht noch eine Viertelstunde, bis wir los kommen, aber du wirst ja ohnehin erst einmal untersucht.

Constanze nickte. Die Mutter schien alles im Griff zu haben. Stefan hatte seine Fingerchen verkrampft in die Bluse seiner Oma gekrallt. Er weinte nicht, beobachtete nur mit großen Augen die Sanitäter, den bunten Krankenwagen und die Nachbarn.

Muss man wegen sowas eigentlich ins Krankenhaus?, fragte sich Constanze, während man sie in den Krankenwagen schob. Sie wusste es nicht, sie hatte bei solchen Geschichten aus dem Bekanntenkreis nie so genau zugehört. Man hört ja auch nicht so genau zu, wenn die alte Nachbarin von ihrer Hüft-Operation erzählt oder der Fußballer von der Kreuzband-Verletzung.

So krank fühlte sie sich eigentlich nicht. Nicht krankenwagenkrank, eher so nach fahr mich doch bitte schnell mal zum Arzt oder in die Notaufnahme. Ihre Mutter hatte darauf bestanden. Vorsichtshalber, nicht dass du mir verblutest, waren ihre Worte gewesen. Und jemand musste bei Stefan bleiben. Thomas, wo bist du nur? Constanze fühlte sich schrecklich allein.

Der Sanitäter lächelte ihr beruhigend zu. Mindestens eins neunzig groß, riesige Hände, kurzgeschorene Halbglatze und ein kurzer, schneidig getrimmter Vollbart. Auch er schien alles im Griff zu haben. Er wollte tröstend nach ihrer Hand greifen, aber sie zuckte zurück, und so tätschelte er nur kurz ihren Arm. Sie wollte die Hände anders ablegen, aber so wie sie dalag, hätte sie sie nur auf ihrem Bauch ablegen können, und das wollte sie nicht.

Der Wagen fuhr ohne Blaulicht, so schlimm konnte es nicht sein. Sie wusste, dass kein Baby mehr da war, dafür brauchte sie keine Untersuchung. Und Constanze wollte nichts vom Klo erzählen, vom Blut und vom Durchfall. Sie hatte keine Schmerzen, nur ein kleines Ziehen im Bauch und einen drückenden Schmerz im Kopf. Sie wollte dem Sanitäter sagen: Alles okay, fahren Sie mich wieder heim. Ich übernehme die Kosten für den Einsatz. Ich gehe morgen einfach zu meinem Frauenarzt. Aber die Worte schafften es nicht aus ihrem Hirn heraus, sie blieben stecken auf dem Weg zu den Stimmbändern und sie behielt sie in sich drin.

Der Krankenwagen hatte ein Fenster in der Decke. Warum nur? Wollten die Leute, die hier drin lagen – sofern sie bei Bewusstsein waren – den Himmel so dringend sehen? Tröstete das Tageslicht und das Mondlicht die Sanitäter bei der Arbeit?Die Nacht war verhangen, aber der Vollmond schaute trotzdem durch die Wolkendecke. Das Licht der Straßenlaternen flitzte vorbei. Nur an der einen Ampel, an der sie halten mussten, starrte sie in das gleißende Licht der Straßenlaterne und wünschte sich, nie die Mutter angerufen zu haben, ohne die sie nicht in diesem Wagen liegen würde.

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