11. Kapitel: Hunger

Thomas saß auf dem Parkplatz des Schnellrestaurants und packte die Papiertüte aus, die er sich gerade im Drive-In geholt hatte. Das Licht im Restaurant war ihm im Vorbeifahren zu grell erschienen, also hatte er beschlossen, im Auto zu essen. Unter dem gnadenlosen Licht hätte er sich nicht wohl gefühlt.

Er hatte das Radio angeschaltet und hörte die Nachtsendung Die größten Hits der 80er Jahre. Der Moderator verkündete gerade mit betont gut gelaunter Stimme: Wenn ihr auch schöne, wilde oder verrückte Erinnerungen an die 80er habt, dann ruft doch an.

Wahrscheinlich liefen dort die Leitungen heiß. Wer um die Uhrzeit noch wach war, hatte entweder eine langweilige Nachtschicht hinter sich zu bringen oder war schlaflos und einsam.

Das Radio spielte Billy Idols Rebel Yell und Thomas wickelte den Burger aus. Einmal mit allem, mit Zwiebeln und Käse und Speck. Es roch nach gebratenem Fleisch und das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Herzhaft biss er in die Seite des Burgers, aus der das Fleisch etwas assymmetrisch herausgerutscht war. Er hatte den ganzen Mund voller Fleisch, Käse und Brötchen. Etwas Mayonaise klebte an seinem Kinn, er wischte sie grob mit einer der Papierservietten ab und griff nach dem Halbliterbecher Cola. Er zog einen großen Schluck durch den Strohhalm und die süße Limo vermischte sich mit dem viel zu großen Bissen in seinem Mund. Er kaute ein paar Mal und schluckte hinunter, griff zum Fahrersitz und stopfte sich eine ganze Handvoll Pommes in den Mund. Er kicherte ein bisschen in sich hinein, denn so hatte er seit seiner Studienzeit nicht mehr gegessen. Ungesundes Zeug in viel zu großer Menge, hastig ohne Manieren in sich hineingeschlungen mitten in der Nacht.

Solange er an sonst nichts dachte, fühlte er sich großartig. Er hatte eine Eroberung gemacht, mehr noch, er war so mächtig, dass die Eroberung ein Klacks, ein Kinderspiel gewesen war. Die großen Augen der jungen Frau, die ihn während des ganzen Essens bewundernd angestarrt hatten. Wie sie ihn völlig verständnislos angeschaut hatte, als er ihr die technischen Details des neuen Projekts geschildert hatte. Wie sie einfach genickt hatte, ohne nachzufragen, voller Ehrfurcht. Es war so leicht gewesen. Einfach nur mitgehen in ihre Wohnung. Nichts fragen, nichts erklären. Und sie hatte einfach mitgemacht. Einmal kurz die Initiative ergreifen und das war’s. Kein Nein, keine Korrekturen, keine Bitten. Er war lebendig gewesen und hatte sich gefühlt wie der Hauptdarsteller eines Films. Oder eines Pornos. Er hatte immer gedacht, dass es so nur bei wirklich reichen und mächtigen Männern funktioniert. Es hatte aber geklappt. Bei ihm. Heute Nacht.

Thomas stopfte sich eine Handvoll Pommes in den Mund und trank einen Schluck Cola. Er biss wieder in den Burger, und ein großer Tropfen Ketchup landete direkt neben der Knopfleiste auf seinem Hemd. Er legte den Burger auf die Papiertüte auf den Beifahrersitz und wischte mit einer Serviette vorsichtig über den Fleck, was diesen aber nur größer machte.

Im Radio erzählte eine Frau, wie sie zu Power of Love ihren ersten Kuss bekommen hatte. Sie erzählte, dass die junge Liebe nicht lange gehalten hatte, aber dass sie sich trotzdem gern daran erinnerte, wie schüchtern sie beide damals gewesen waren und wie aufregend der erste Kuss für sie war. Dann lief Like a virgin. Er hasste dieses Lied. Dämlicher Pop mit quäkender Stimme. Thomas öffnete das Handschuhfach und wühlte darin, bis er die einzeln verpackten Erfrischungstücher gefunden hatte, die sie für längere Autofahrten bei großer Hitze dort aufbewahrten. Er riss die Verpackung auf, nahm das Tüchlein heraus und rieb an dem Fleck herum, der zwar blasser und kleiner wurde, aber trotzdem noch deutlich als Ketchupfleck zu erkennen war. Dazu würde er sich eine Geschichte überlegen müssen.

Es war so leicht gewesen, zu leicht. Thomas fragte sich plötzlich, ob sie so etwas öfter machte, einen Mann einfach mit nach Hause nehmen. Auf einmal lief ihm ein kurzer Schauer über den Rücken, weil er kein Kondom benutzt hatte. Hätte er in der Tapas-Bar auf die Toilette gehen sollen, vielleicht war dort ein Kondom-Automat? Er hatte aber doch nicht damit gerechnet, dass sie ihn mit in die Wohnung nehmen würde. Er hatte keine Erfahrung mit so leichten Eroberungen.

Andererseits glaubte er nicht, dass Vanessa sich mit vielen Männern einließ. Sie schien in ihrem Leben im Moment auf andere Dinge konzentriert zu sein. Sie wollte Karriere machen, das hatte sie ihm letztens erzählt. Vielleicht hatte sie mit der Aktion heute Abend ihre Karriere ankurbeln wollen?

Zum Glück hatte er sich gewaschen. Constanze würde nichts an ihm riechen, höchstens vielleicht den Geruch des Fastfoods, den sie auch nicht mochte. Er musste noch an seiner Kleidung suchen, bevor er nach Hause fuhr. Blonde lange Haare wären verräterisch.

Thomas überlegte, ob er das Handy wieder anschalten sollte, entschied sich aber dagegen. Constanze hatte bestimmt angerufen. Und wenn er jetzt die Mailbox abfragte, konnte er nicht mehr behaupten, der Akku sei leer gewesen. Der Akku war tatsächlich fast leer. Wenn er daheim als erstes nach einer Entschuldigung – falls sie noch wach war – das Handy ans Ladegerät hängen würde, müsste eigentlich alles glatt laufen.

Plötzlich konnte er nicht mehr weiteressen. Er warf die Reste des Burgers und die übrigen Pommes mit den Servietten in die Papiertüte und stieg aus dem Auto. Dann brachte er die Tüte zum Mülleimer und ging ins Fastfoodrestaurant zu den Toiletten. Vor dem Spiegel untersuchte er gründlich Gesicht und Hals auf Lippenstift und Knutschflecke. Nichts passiert. Dann Sakko, Hose und Hemd auf Haare. Eines fand er tatsächlich auf seinem Sakko. Um letzte Parfümspuren zu überlagern, nahm er ein weiteres Erfrischungstuch mit Zitronenduft und rieb damit über seine Kleider und seine Haut. Nach einem letzten prüfenden Blick ging er zurück zum Auto und fuhr nach Hause.

Schreibe einen Kommentar