Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  Oktober 2004



…die Einsamkeit in einem Wohnblock

Eigentlich, liebe Leser, wollte ich ja eine Schreibpause von ein paar Tagen einlegen, um mich wieder um ein paar andere Dinge zu kümmern. Aber durch die bekannten Ereignisse in meiner „Hauptstadt“ Linz habe ich diesen Plan wieder verworfen. Seit Tagen knallen an den Zeitungsständen die Schlagzeilen mitten in ins Gesicht: eine zweiundvierzigjährige, engere Landsfrau wurde von der kleinen Tochter tot aufgefunden, verstorben an inneren Blutungen wegen eines Zwölffingerdarmgeschwürs, das die Frau nie behandeln hatte lassen. Grauenhaft das Geheimnis der dreifachen Mutter, das in der Folge aufgedeckt wurde: in zwei Koffern fand man zwei tote Babys. Das letzte erst eine Woche alt: lebensfähig geboren hatte es die Frau getötet, erstickt.

Mit dem älteren Baby dürfte die Frau ebenso verfahren haben. Allerdings ist der Verwesungsprozess schon so weit fortgeschritten, dass sich die Todesursache nie klären wird lassen. Unklar auch die Identität des Vaters der toten Kinder (bzw. der Väter). Nach dem Selbstmord ihres zweiten Mannes wollte die Mutter angeblich keinen Mann mehr in der Wohnung dulden. Trotzdem muss die Frau Kontakte zumindest zu einem Mann gepflegt haben – sonst wäre sie nicht schwanger geworden. Den Nachbarn fiel nichts Ungewöhnliches auf, weder die schwere Krankheit der Frau, noch ihre Schwangerschaften. Und wenn der/die eine oder andere doch ein merkwürdiges Gefühl gehabt hatte, so muss er/sie es trotzdem vorgezogen haben zu schweigen. Weil es einfacher ist. Und bequemer.

Während jetzt Ärzte und Psychologen diskutieren, ob die Frau psychisch schwer gestört war, weil sie den Mord an ihren Kindern verdrängen konnte, mache ich mir hingegen Gedanken, wie einsam man inmitten von anderen Leuten in einem Wohnblock leben kann. Es lässt sich den Medien schwer entnehmen, ob die Frau regelmäßige Kontakte zu den Nachbarn pflegte, ob sie Freunde hatte, die sie öfter sah. Ihre Kinder hatte sie gut versorgt, der Älteste mit zwanzig dürfte ohnedies schon auf eigenen Beinen gestanden haben. Aber über ihr Wesen  und ihre Ängste dürfte die Frau wenig nach außen gezeigt haben. Und die Väter ihrer ermordeten Kinder? Zufallsbekanntschaften oder doch der große Unbekannte, der jetzt erst recht keinen Grund sieht, sich zu einer Beziehung zu jener Frau zu bekennen, die ihre neugeborenen Babys tötete?

Der Mensch kann sehr einsam sein, obwohl er scheinbar mitten im Leben steht. Und jede Wohnung in einem Block beherbergt ihre eigene, kleine Welt, abgeschlossen von den anderen. Wie oft stößt man in den Zeitungen auf Meldungen, in denen ein Pensionist Wochen oder Monate nach seinem Tod halb verwest aufgefunden wurde? Und meist das auch nur per Zufall: übler Geruch im Stiegenhaus oder ein eingeschriebener Brief, der nicht angenommen wurde, machten die Leute erst aufmerksam. Es ist ein Charakteristikum  unserer Zeit, dass die Leute den bequemen Weg wählen. Sie ignorieren die Schreie von geprügelten oder missbrauchten Kindern, die blauen Flecken von Frauen oder die offensichtlichen Anzeichen einer Sucht oder krimineller Straftaten.

Hinter mir die Sintflut! Was kümmert mich das? Das gibt nur Scherereien! Ich will mich da nicht einmischen! Genau darum sterben immer wieder einsam Menschen in ihrer Wohnung. Genau darum konnte eine Frau zwei Schwangerschaften verbergen und ihre Babys töten, ohne dass jemand sich ernsthaft den Kopf darüber zerbrochen hat. Ich frage mich schon: hat niemand die Neugeborenen schreien gehört? Oder geht das erste Lebenszeichen eines kleinen Kindes im Lärm der Großstadt einfach schon unter? Offensichtlich schon. Es lebe der Tratsch, es lebe das Tuscheln. Flüstern hinter vorgehaltener Hand. Aber Nachbarschaftshilfe pflegen, an Türen klopfen und Hilfe anbieten. Immer wieder. Nein – so was ist unmodern.

Der Mensch ist träge geworden, und lebt sehr egoistisch. Wichtig ist, dass es ihm (und  eventuelle seiner Familie) gut geht, dass er seinen Lebensstandard halten kann und alles andere ist uninteressant. Hätte beizeiten ein/e Nachbar/in den Weg zu dieser Linzer Mutter gefunden und mit ihr geredet: vielleicht würden die Kinder heute leben, wären bei Pflegefamilien versorgt und die Mutter hätte ihren psychosozialen Stress nicht in Form eines Zwölffingerdarmgeschwürs in sich hineingefressen. Ja, auch die Frau könnte heute noch leben, wenn ihr jemand seine/ihre Hand hingehalten hätte. Im Nachhinein kann man immer schlauer sein, mag der eine oder andere von Ihnen, liebe Leser, jetzt denken.

Aber es geht nicht nur um diese Frau, sondern darum, dass sich solche Tragödien immer wieder ereignen. Fälle, wie ich sie aufgezählt habe: der Mensch in unserer Gesellschaft schaut lieber weg, als dass er etwas bewegt. Auch auf die Gefahr hin, nichts zu erreichen oder auf Widerstand zu stoßen. Wir alle sind nicht in der Lage aus solch tragischen Ereignissen eine Lehre zu ziehen…

Vivienne

Link: Alle Beiträge von Vivienne

 

Schreibe einen Kommentar