Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  Juni 2004



Die Intimität des Kusses

Wie fast jedes Jahr, wie mir scheint, waren die US-Amerikaner kürzlich wieder einmal aufgerufen den „besten Kuss der Filmgeschichte zu wählen“, wobei man sicher darüber diskutieren kann, was die Qualität eines Filmkusses jetzt wirklich ausmacht. Das Ergebnis fällt, so weit ich mich erinnern kann, auch fast jedes Mal gleich aus. „Vom Winde verweht“ mit Vivien Leigh und Clark Gable hat noch immer die Nase vorne gehabt, und es wundert mich auch keinesfalls, dass mit „Casablanca“, „Dr. Schiwago“, „Singin’ in the Rain“ oder „Sabrina“ fast nur so genannte Klassiker in den Top Ten aufscheinen.

Der Kuss hat viel von seiner Intimität verloren, und hielten früher Kinogeher erregt fast den Atem an, wenn sich die beiden Protagonisten eines Filmes küssten, so haut das heute niemanden mehr vom Hocker. Nackte Körper diktieren das Filmgeschehen, auch das einerseits so prüde Amerika fungiert dabei als Vorreiter. Brad Pitt etwa ist in „Troja“ im wahrsten Sinn des Wortes mehrfach von seiner besten Seite zu bewundern, und daran liegt auch grundsätzlich nichts Schlechtes. Kein sehnsüchtiger Blick zurück in Zeiten, wo man Röcke über Knielänge tragen musste oder Hosen für Frauen überhaupt verpönt waren. Ein schöner, nackter Männerkörper ob in Werbung oder Kino hat schon auch für mich etwas sehr Reizvolles, da möchte ich auch einem Mann das Interesse an weiblichen Brüsten oder Taillen nicht absprechen.

Trotzdem. Mit der zunehmenden „Freizügigkeit“ ist unter anderem auch die Intimität des Kusses mehr und mehr verschwunden, Küsse werden heutzutage inflationär verteilt, es gehört zum guten Ton, wenn man beim Fortgehen in eine Gruppe von Leuten kommt, gleich jeden mit Küsschen auf die Wange zu begrüßen, auch wenn man ihn/sie kaum oder gar nicht kennt. Ein Negativerlebnis der besonderen Art hatte ich im letzen Jahr einmal, als ich mit ein paar Leuten unterwegs war und mir eine junge Frau mit offenbar bisexuellen Neigungen zum Abschied ihre Zunge zwischen die Lippen schieben wollte. Ich hätte übrigens daraufhin beinahe meine gute Erziehung vergessen…

Eigentlich küsse ich sehr gern, aber eben nicht en masse und nicht jeden. Für mich setzt ein Kuss im Grunde noch immer eine Vertrautheit voraus, die ich einfach nicht bei jedem empfinde. Ich bin der Meinung, dass ein offener, ehrlicher Händedruck Freundschaft auch sehr schön dokumentieren kann. Und unter Umständen auch ehrlicher. Vielleicht liegt diese Haltung  einfach auch daran, dass ich mit einem richtigen Kuss auf die Lippen noch immer mehr assoziiere als bloße Freundschaft… Das klingt wahrscheinlich altbacken im 21. Jahrhundert, aber ich stehe dazu. Es fällt mir einfach schwer, daran etwas zu ändern, weil sich in meinem Leben schon zu viele scheinbar harmlose Küsse als Judasküsse erwiesen haben.

Und drum sehe ich mir einen Menschen auch genau an, bevor ich ihm  – blumig gesprochen – meine Lippen anbiete. Und behalte mir etwas für mich Intimes jenen Leuten vor, mit denen ich auch eine gewisse Intimität teile oder teilen möchte. In einem der Kuss-Klassiker, nämlich „Casablanca“ gelangte der Song „As Time goes bye“ zu Weltruhm. In einer Zeile heißt es da „You must remember this, a kiss is just a kiss,...” Richtig, ein Kuss ist im Runde auch nicht mehr als ein Kuss, und muss nicht immer Ausdruck einer übergroßen Zuneigung oder gar von Liebe sein. Das will ich gar nicht in Abrede stellen.

Trotzdem würde ich selber es begrüßen, wenn ich es mir stets aussuchen könnte, wen ich küsse, und niemandem sozusagen unter „psychosozialer Nötigung“ („Stell dich nicht so an!“) eine Pflichtübung abliefern müsste. Das alte Lied vom „gesellschaftlichen Druck“ dem man alle seine Gewohnheiten und vor allem seine Werte und Wertvorstellungen unterwerfen soll. Wenn du „dazugehören“ willst, dann opferst du eben deine Ansichten auf dem Altar der „Hoffähigkeit“. Und darum hat auch ein Kuss keine tiefere Bedeutung mehr, ist nicht mehr Ausdruck besonderer Wertschätzung sondern bestenfalls ein halbherziges Versprechen. Keine Frage, jeder soll in seinem Rahmen das ausleben können, was er/sie möchte, und ich kann mir gut vorstellen, das so mancher Leser über meine Ansichten den Kopf schüttelt. Es sei ihm belassen, so wie ich selbst zu meiner Meinung stehe.

Wirklich nicht überraschend also, dass in dieser Wertung der Filmklassiker mit den schönsten Kussszenen kein einziger wirklich aktueller Film im Spitzenfeld liegt. Küssen ist eben nicht mehr romantisch oder bedeutungsvoll, nicht mehr wirklich angesagt, in einer Zeit, in der die die meisten Teenager mit 14, 15 Jahren ihre Unschuld verlieren und Sex praktizieren, bevor sie überhaupt seinen tieferen Sinn begriffen haben. Irgendwann werden sich die Menschen auch an Sex- und Bettszenen im Kino und Fernsehen, in allen Details, satt gesehen haben. Dabei stellt sich für mich die Frage, ob man dann andere, krassere Ersatzbefriedigungen finden wird oder spät aber doch noch erkennt, wie reizvoll eine etwas scheuere und romantischere Variante von Liebe, Sexualität und Intimität sein könnte.

Weniger ist manchmal mehr… 

Vivienne

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