Die bunte Welt von Vivienne
von Vivienne – September 2001
Und nichts wird sein, wie es war …
Beim Menschen ist kein Ding unmöglich, im Schlimmen wie im Guten. In diesen Worten Christian Morgensterns findet sich jene treffende Wahrheit, die Ereignisse wie die vom 11. September erst unter dem richtigen Blickwinkel zeigt. Erklärungen zu finden ist müßig wer kann Solches erklären, wo Worte fehlen, wo Gedanken erstarren, weil sie sich weigern, das Unfassbare anzuerkennen? Zigtausende Tote, unglaubliches Leid und die Frage, immer wieder: Wie war so etwas möglich? In Jean Paul Sartre findet sich eine Antwort: Gewalt lebt davon, dass sie von anständigen Menschen nicht für möglich gehalten wird.
Ist es nicht so?
Am 11. September komme ich kurz nach 15.00 Uhr vom Friseur. Ich bin sauer, weil die Friseuse sich keine besondere Mühe gegeben hat. Mit dem Haarschnitt bin ich nämlich ziemlich unzufrieden. Ich drehe das Radiogerät auf und setze mich ich an den PC um meine Emails abzurufen. Die hektische Stimme des Radiosprechers läßt mich schließlich aufhorchen. Was ist denn da passiert…? Ich drehe das Radio lauter, meine Augen werden tellergroß: das gibts doch nicht. Sofort laufe ich ins Wohnzimmer, stelle das Gerät auf ORF-2 um und erhalte die Bilder zu den unglaublichen Meldungen im Radio nachgeliefert. Ich sehe den zweiten Turm des World-Trade-Centers life einstürzen. Trotzdem habe ich die ganze Zeit immer wieder das unwirkliche Gefühl, dass ich nur einen der vielen Katastrophenfilme sehe, mit denen regelmäßig – vorwiegend auf Privatsendern – das Sonntagabendprogramm gestaltet wird.
Ich verbringe fürs erste drei Stunden vor dem Fernsehgerät. An meine verhunzte Frisur denke ich nicht mehr. Pausenlos jagen kalte Schauer über meinen Rücken, außerdem ist mir von Zeit zu Zeit ein wenig schlecht. Eugen Freund analysiert die Situation mit einer Sachlichkeit, die mir die ganzen Vorfälle erst recht unwirklich erscheinen läßt. Doch der Schwenk in die Normalität bleibt aus. Das Grauen, das mich völlig irritiert vor dem Fernsehgerät fesselt, manifestiert sich als die Realität. Die Skyline von Manhattan wird nie wieder so aussehen, wie sie einmal war, wie sie von Millionen Ansichtskarten grüßte…
Ich gehe ins Internet. CNN.com, alle Nachrichtenseiten, mit aktuellen Bildern und Berichten bestückt. Immer wieder das zweite Flugzeug, das ungebremst in den Zwillingsturm fliegt. Ich denke an all die Menschen, die gerade in diesem Augenblick an ihren Schreibtischen gesessen hatten, am PC, so wie ich jetzt. Wie empfanden sie den Moment, als die Maschine durch die Wände krachte, eine riesige Feuersbrunst mit sich zog? Welche Gedanken, so kurz sie auch waren, gehen einem Menschen dabei durch den Kopf? Nimmt man es überhaupt wahr, dass man von einer Sekunde auf die andere stirbt, ohne jegliche Vorwarnung?
Ich reiße mich aus diesen Überlegungen. Mir fällt Karen ein, eine alte Freundin aus Amerika. Nicht in New York, aber in St. Paul, Minnesota, daheim. Josef Broukal hat im TV wiederholt erklärt, dass fast alle Internetverbindungen in die USA unterbrochen seien. Ich schicke Karen eine kurze Email einfach wie es ihr geht. Keine Fehlermeldung – gut. Meine Mutter ist mittlerweile nach Hause gekommen, sie hat meinen Vater im Spital besucht. Ich hole einen alten Schulatlas vom Dachboden. Dann setze ich mich zu meiner Mutter, zeige ihr die Schauplätze: wo New York, Boston, Washington, DC, aber auch St. Paul, Minnesota, liegen. Heißt das, dass jetzt ein Krieg kommt? fragt sie schließlich und sieht mich nachdenklich an. Die Amis lassen sich das doch sicher nicht gefallen. Blödsinn! antwortet ich heftig. Gegen wen den? Was weiß man denn, wer dahintersteckt? Aber ich glaube nicht, was ich sage, nicht eine Sekunde.
Kurz darauf. Karen hat mir eine ausführliche Antwort, in der sie all ihre Betroffenheit zum Ausdruck bringt, gemailt. Sie verspricht auch, mich über alle Neuigkeiten auf dem Laufenden zu halten. Auf MyDay hat jemand eine Prophezeiung von Nostradamus, die haargenau die Zerstörung der Türme des World-Trade-Centers zum Inhalt hat, zur Diskussion gestellt. Den Äußerungen entnehme ich, dass alle möglichen Leute an einen neuen Weltkrieg glauben… Ich schüttle den Kopf, linke mich ein und stelle die These in Frage, ja, ich mache sie lächerlich. Vehement weise ich darauf hin, dass Nostradamus vielleicht nur an Verdauungsstörungen litt. Dabei tobt in mir die Panik, dass wirklich ein weltweiter Krieg entfesselt werden könnte. Eine halbe Stunde später schon deckt ein schlauer Surfer die angebliche Prophezeiung als Schmäh auf.
Ich schlafe schlecht. An den Traum kann ich mich nicht wirklich erinnern, aber er drückt mir trotzdem unangenehm aufs Gemüt. Der Kaffee schmeckt mir überhaupt nicht. An der Bushaltestelle lachen und tratschen die Schüler wie gehabt. Im Bus treffe ich einen Bekannten, den ich schon ewig kenne. Ein sympathischer Mensch. Heute erzählt er mir des langen und Breiten, dass alle Talibanen pauschal ausgerottet gehören. Ich glaube, nicht richtig gehört zu haben. Aber ich habe mich nicht getäuscht. Der nette, umgängliche Mann fühlt sich in beredten Worten zum Henker einer ganzen Gruppe berufen. Mir wird wieder schlecht. Wie heißt es? Wir müssen selbst Frieden machen, ehe Frieden gemacht wird.
Ich bin froh, als der liebe Mensch aussteigt. Neben mir beschwert sich eine etwa 17jährige Schülerin am Handy lauthals bei ihrer Freundin über den neuen Busfahrplan. Über zehn Minuten. Und überhaupt… Deine Sorgen möchte ich haben, denke ich mir. Ist wohl das Vorrecht der Jugend, oberflächlich zu sein. Es tut einerseits gut, den ganzen Tag nichts von dem Terrorangriff zu hören. Aber die Realität kommt daheim, ist im Radio, im Internet, im TV, in den Zeitungen – allgegenwärtig. Ich habe das Gefühl, ich bekomme einen Koller. Mir reichts. Ich kann und will nichts mehr hören und sehen von alledem. Ich schalte alles ab. Die Ruhe, die folgt, ist paradiesisch. Aber trügerisch. Denn George Bush hat allen Feinden der USA Vergeltung angekündigt. Ist nur eine Frage der Zeit…
Am nächsten Tag habe ich mich wieder ein wenig gefangen. Ich schaffe es sogar mit einem Kollegen zu schmähführen, dass George Bush die ganze Aktion mit bin Laden abgesprochen hat um die eigene Popularität zu steigern. Wahrscheinlich telefoniert der Präsident gerade mit dem vermeintlichen Todfeind, um sich mit warmen, herzlichen Worten für die prompte und effiziente Hilfe zu bedanken… haha, wie makaber. Aber Hauptsache, man lacht wieder. Das Leben geht weiter, richtig, aber es ist sicher nicht mehr so unbeschwert. Mein Vater muss sich nächste Woche einer schweren Operation unterziehen. Viele kleine Sorgen quälen mich zusätzlich, ich kann mich nicht wirklich auf etwas konzentrieren. Die Welt steht hinter den USA und hinter George Bush wie schön! Aber was nutzt das, wenn vielleicht demnächst eine Bombe auf Temelin fällt?
Karen schreibt viel und regelmäßig. Sie schickt mir unter anderem eine Powerpointpräsentation mit atemberaubenden Fotos vom Unglück. Ich sitze wieder einmal vor dem PC, lese Meldungen im Internet, schaue mir Bilder an. Eine alte Fliege umschwirrt mich, ihr tiefes Brummen ist wie ein Synonym für die trüben Gedanken, mit denen ich mich immer wieder auseinandersetze. Ich greife aggressiv nach der Fliegenklatsche und mache dem Tierchen den Garaus. Mit den Gedanken geht das nicht so leicht. Sie verfolgen mich in den Traum, fressen sich in meine Gehirnwindungen, tauchen alles in tiefes Grau. Als hätte jemand dunkle Farbe vor meinem geistigen Auge ausgeleert. Die Nebel scheinen undurchdringlich…
Eine Woche ist vergangen. Ich antworte Karen auf eine Email, dass nichts mehr sei, wie es war… Karen gibt mir recht, erzählt von ihrer eigenen Bedrückung, von Sorgen, Ängsten und Zweifeln. Aber auch davon, dass sich die USA diesen Angriff, diesen vielfachen Mord, diese Demütigung nicht gefallen lassen werden. Die USA haben schon so viel für alle Menschen getan und brauchen jetzt in dieser Situation die Hilfe aller Länder. Nebenbei höre und sehe ich in den Nachrichten aber auch von Übergriffen in den USA auf islamisch-stämmige Mitbürger, ja von Morden.
Und ich muss an Pearl Harbour denken, als jene Japaner, die schon viele Jahre in Amerika gelebt hatten, damals zu Unpersonen degradiert wurden. Die Amerikaner haben noch immer nicht gelernt… Vor allem nicht gelernt zu unterscheiden. Und dass ein Unrecht durch ein anderes nicht ungeschehen gemacht werden kann. Auch wenn die Wunde, die geschlagen wurde, noch so weh tut. Schrecklich immer, auch in gerechter Sache, ist Gewalt. Da hat Friedrich von Schiller wieder einmal mehr als recht.
Vivienne
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