von Vivienne – März 2005
Der kleine graue Kater
Letztes Jahr im Spätsommer war ich mit Albert wieder in meiner Heimatgemeinde unterwegs. Wir spazierten durch das Dorf und ich zeigte ihm den alten Kastanienbaum, bei dem ich mir seit Kindertagen immer wieder Kastanien geholt hatte. Gleich daneben befindet sich eine Kapelle und Albert konnte seine Neugierde nicht unterdrücken und sah sie sich genauer an. Heiligenbilder, halb vertrocknete Blumen und Kerzen befanden sich dort. Im Mittelpunkt die Totenbilder von zwei Kindern und ein weißer Zettel mit den Worten: Wir werden euch nicht vergessen.
Betroffen schwieg ich. Ich konnte mich noch gut an den Sommer vor bald fünfzehn Jahren erinnern, als der Unfall passiert war Nachdenklich sah ich Ali an und erzählte ihm leise die Geschichte. .. im Frühjahr 19.. muss das gewesen sein. Helmut, ein zwölfjähriger Bub, wollte die Bauerntochter Gisi auf dem Fahrrad heimbringen. Dort vorn Ich deutete die Straße entlang, ist eine unübersichtliche Kurve in eine Bahnunterführung. Dort sind die beiden vom Auto einer dreifachen Mutter erfasst und getötet worden. Sie waren auf der Stelle tot Ich starrte ein Loch in die Luft. Die Erinnerung war mit einem Mal so intensiv, als wäre dieser grauenhafte Unfall gerade erst passiert.
Die Totenbilder waren im Lauf der Jahre verblasst, aber ich wusste genau, dass fast die ganze warme Jahreszeit immer wieder frische Blumen in die kleine Kapelle gebracht wurden. Die Eltern der beiden Kinder wechselten sich dabei wohl ab Albert nahm mich bei der Hand und seine Frage überraschte mich nicht, denn er kannte mich zu gut. Was war noch, Vivi? Ich lächelte versonnen und Bilder tauchten vor meinem geistigen Auge auf Ich war mit Bea relativ kurz nach dem Unfall bei jenen Bauern, die ihre Tochter bei dem Unfall verloren hatten. Gisela, so hieß das Mädel übrigens, war das Nesthäkchen, und es war offensichtlich, dass der Tod der Kleinen eine große Lücke in der Familie hinterlassen hatte.
Das und die große Betroffenheit spürten Bea und ich damals sofort, als wir den Hof betraten. Wir kauften dem Bauern immer wieder gerne Erdäpfel ab oder anderes Gemüse, aber auch Butter, Milch und Käse ab. Die Bäuerin, die auch halbtags in der Volksschule unterrichtete, empfing uns freundlich aber mit blassem Gesicht und blauen Ringen unter den Augen. Grüß euch, was brauchts denn heute? Es fiel mir schwer unter diesen Umständen die richtigen Worte zu finden. Aber die Bäuerin lächelte wie gewohnt und ging nach hinten, um das Gewünschte zu holen.
Als ich mich nach Bea umdrehte, musste ich völlig überrascht feststellen, dass sie mit einem kleinen grauen Kater spielte. Ich hatte das Tierchen zuerst gar nicht gehört, aber nun schnurrte der kleine Tiger lautstark. Der hatte aber auch einen Charme! dachte ich mir, als ich ihn auf den Arm nahm. Ich sah Bea und konnte in ihrem Gesicht deutlich lesen, was ich mir selber auch dachte. Nehmen wir den Kleinen doch mit! Ich schüttelte den Kopf, ich war mir sicher, die Antwort unserer Eltern zu kennen. Immerhin hatten wir schon eine Katze, unsere Minki! Aber Bea widersprach mir. Aber geh! Ich werde unsere Leute überreden. Was heißt ich er wird das tun, oder? Der kleine Kater miaute zart, als hätte er sie verstanden.
Als ich die Bäuerin zahlte, trug ich auch gleich unser Anliegen vor. Ich deutete auf die frisch in den Kleinen verliebte Bea und fragte vorsichtig. Dürfen wir den süßen Kater da auch mitnehmen? Er ist hinreißend und Sie sehen ja selbst Ich deutete auf Bea. Die Bäuerin wirkte etwas erstaunt auf mich, fast betroffen. Ihr wollts euch den Tobi mitnehmen? Ja mei Sie schwieg und antwortete schließlich völlig unvermittelt. Ja, natürlich es war halt der Kater von der Gisi, woher sollts ihr das wissen Ihre Augen schwammen in Tränen als sie mich wieder anblickte. Ja, nehmts ihn mit, aber seids gut zu ihm, versprochen?
Welch ein seltsamer Zufall war das gewesen, und Bea konnte wie erwartet den Widerspruch unserer Eltern brechen. Der Widerspruch unserer Minki war weniger leicht zu brechen, denn die neurotische Dame ging mit dem kleinen Rivalen alles andere als sanft um. So manchen Tatzenhieb von ihr musste er einstecken, was ihn aber nicht hinderte, bei uns auf Entdeckungsjagd zu gehen. Er schlief auf Beas Bett, er machte in ihr Zimmer, er machte in mein Zimmer und trotzdem konnte man ihm nicht böse sein So viel Charme hatte dieses kleine Geschöpf
Albert legte mir die Hand auf die Schulter und holte mich aus der Vergangenheit zurück. Was ist mit ihm passiert? Ich atmete tief ein und aus. Der kleine Tobi hat sich die Katzenseuche geholt. Wir wissen nicht wo bzw. bei welcher Katze, aber wir bemerkten es jedenfalls zu spät. Viel zu spät. Er verkroch sich nämlich über einer Woche und als wir ihn endlich wieder fanden, konnte der Tierarzt nichts mehr für ihn tun Das war im Sommer, noch im selben Jahr. Ich lehnte mich an Alis Schulter und fuhr fort, mehr zu mir selbst. ein merkwürdiger Zufall, dass der kleine Kater der Gisi auch nicht alt wurde. Er starb nur ein paar Monate nach dem Unfall. Fast als hätte sie ihn zu sich geholt Albert zupfte an meinen Locken und zog seine ironische Miene auf. Werd nicht melodramatisch, Liebes!
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