von Vivienne – Februar 2005
War das Freundschaft?
Alicia! Ich konnte es kaum fassen! Sie saß an jenem Ecktisch im Saal, rauchte eine Zigarette und war erschreckend blass. Auch ihre wunderschönen nilgrünen Augen wirkten selbst auf die Entfernung schon sehr glasig. Ich stieß Albert vorsichtig an. Ohne ein Wort folgte mein Freund mit den Augen meinem Zeigefinger. Dann warf er mir einen amüsierten Seitenblick zu. Alicia trank inzwischen aus einem Glas Rotwein und ihr grellrot geschminkter Mund wirkte im blassen Gesicht wie eine offene Wunde. Nein, wir hätten sicher nicht erwartet, Alicia hier wieder zu treffen, und die beiden Typen an ihrem Tisch gehörten sicher wieder jener Gruppe Männer an, die an ihrer Bettkante schon niedergesunken waren
Wie es wohl ihrem kleinen Sohn ging? Ganz plötzlich war diese Frage da, ich brachte sie nicht mehr aus dem Kopf, denn die Erklärung, eine ihrer Schwestern würde auf den Kleinen schauen, schien mir nicht sehr realistisch. Die halbe Zeit war Alicia mit ihren beiden Schwestern zerstritten gewesen, und obwohl es fast unlogisch schien: ich machte mir Gedanken, wie es dem kleinen Andre ging, diesem entzückenden jungen Mann von vier Jahren, der die Augen seiner Mutter geerbt hatte. Albert holte mich wieder aus meinen Gedanken. Merkwürdiger Zufall, was? Aber ich bin mir sicher: sie ist heute schon wieder so betrunken, sie würde uns gar nicht erkennen
Ich nickte leicht abwesend. Kann leicht sein. Ich mach mir Sorgen um sie. Sie sieht nicht gut aus Albert legte den Arm um mich. sie hat immer schon zu viel getrunken, erinnerst du dich? Es sollte mich nicht wundern, wenn ihr kleiner Andre wieder bei seinem Vater ist! Ich musste unwillkürlich schmunzeln Ali hatte einen ähnlichen Gedankengang gehabt wie ich. Langsam begann ich mich wieder zu erinnern Als Ali und ich vor einem halben Jahr in die größere Wohnung gezogen waren, hatte sie die Wohnung neben uns bewohnt. Alicia, langes, dunkelbraunes Haar, Ende Zwanzig und bildhübsch. Und sehr gastfreundlich, denn schon am zweiten Tag hatte sie uns zu einer Willkommensparty eingeladen, einer Feier, bei der es feuchtfröhlich zugegangen war und am Ende sowohl Ali als auch ich mit einem ziemlichen Schwips heimgegangen waren.
Alicia war echt nett, aber sie steuerte pfeilgerade auf eine ernste Abhängigkeit von Alkohol hin, das war uns immer schon klar gewesen. Und ich vermutete damals schon den Schlüssel dazu in ihrer Kindheit sie stammte, wie wir andeutungsweise wussten, aus zerrütteten Familienverhältnissen. Ob sie selber jemals geborgen gewesen war, weiß ich nicht, aber sie versuchte zumindest ihrem kleinen Buben ein familiäres Heim zu geben. Und trotzdem kamen mir immer wieder Zweifel daran, wenn ich realisierte, wie der Bub wechselnde Männerbekanntschaften und ihren unsteten Lebenswandel mitbekam. Ali und ich passten bisweilen auf den Buben auf, der lebhaft und sehr interessiert von der Welt Notiz nahm. Sein Vater hatte sich schon lange von Alicia wieder getrennt, und so nach und nach begriffen wir auch, warum.
Alicia hatte merkwürdige Vorstellungen von Liebe und von Freundschaft. Nicht allein deshalb, weil sie einmal de facto neben mir Albert auf der Couch verführen wollte und ihr damaliger Freund wäre deswegen fast explodiert. Auch ihre Betrunkenheit entschuldigte diese Entgleisung für mich nicht, wenngleich sich Ali unmissverständlich verhalten und ihr ihre Grenzen gezeigt hatte. Ein paar Wochen später, wir hatten uns inzwischen wieder versöhnt, zeigte uns Alicia auf dem PC Fotos aus ihrem Fundus. Darunter waren schließlich auch Nacktfotos von Irmi, einer ihrer besten Freundinnen. Irmi war noch etwas dicker als ich und hatte die Fotos für ihren Freund Hubsi machen lassen, zu dessen bevorstehenden Geburtstag.
Einen professionellen Fotographen hatte sich Irmi nicht leisten können, aber der hätte sicher nicht gemacht, was Alicia tat: sie machte sich lauthals über Irmis dicke Schenkel und die breiten Schultern lustig. Albert und ich hatten uns bei dieser Gelegenheit irritiert angeblickt und waren schließlich gegangen. Ich bezweifelte im Grunde nicht, dass Alicia Irmi aufrichtig zugetan war, aber sie hatte das große Bedürfnis, Irmi lächerlich zu machen oder zu verspotten um ihr eigenes Minderwertigkeitsgefühl etwas zu mildern. Vielleicht war auch die einmalige Absicht, Ali neben mir zu verführen, aus dieser Motivation entstanden. Immer wieder kam mir der Gedanke, dass Alicia echte Hilfe brauchte. Jemand, der sie aus den Sauforgien holte und ihre geknechtete Seele wieder aufrichtete. Hilfe, die sie jedenfalls nicht bei ihren unterschiedlichen Bettgefährten fand den die suchten großteils nur einen schönen Körper zum Vögeln.
Oder sie vergraulte sie selbst. Indem sie Burschen, die sie wirklich gern hatten, Hörner aufsetzte, und das offen ohne jeden Genierer. Es war schwer festzustellen, was Alicia wirklich wollte, aber offenbar hasste sie sich so sehr, dass sie jedes kleine Glück selbst zerstörte wie aus einem inneren Zwang heraus. Oder andererseits zu erzwingen versuchte, was einfach nicht möglich war. Etwa als Jules, ein schwuler Kunststudent aus der Provence, einige Zeit bei ihr lebte. Er gestaltete wunderschöne Aktbilder von ihr, aber auch er verließ sie bald wieder. Alicia war so vermessen gewesen anzunehmen, sie könne ihn umpolen, wie sie mir gegenüber formulierte. Jules wurde das zu viel sein ganzes Herz gehörte Alicia, aber er liebte nun mal Männer!
Noch im alten Jahr musste Alicia ihre Wohnung neben uns verlassen. Einige Monate Mietrückstand hatten sie zunächst völlig kalt gelassen. Erst als die Delogierung bereits bevor stand, klapperte sie die Nachbarn um Unterstützung ab. Ich war im Zweifel gewesen, was ich tun sollte, aber Ali sprach ein Machtwort. Du weißt genau, dass das ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Wenn du ihr das Geld gibst, steht sie in einem Monat wieder da ein Fass ohne Boden. Alicias Blick tat mir weh, als ich ihr unsere Antwort mitteilte. Hass schwang darin, aber auch große Enttäuschung, und sie schlug ohne ein Wort die Tür zu Langsam kehrte ich mit den Gedanken wieder in das Lokal zurück. Alicia knutschte mittlerweile mit einem der beiden jungen Männer. Der Anblick tat mir wieder weh. Würde sie je ihr Leben in den Griff bekommen?
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