Weil die Wahrheit immer anders aussieht

Mein Bruder Claudio saß am Schachcomputer, als ich das Wohnzimmer betrat. Er und seine Frau Angelina hatten vor etlichen Jahren in einer Mühlviertler Gemeinde ein Haus geerbt, wo sie sehr komfortabel mit großem Garten und schattiger Veranda lebten. Claudio arbeitete im Außendienst und genoss die wenige Freizeit mit seiner Frau sehr. Im Grunde hatte er, neben Angelina, nur zwei Leidenschaften: Tennis und Schach, das er mangels Begeisterung seiner Frau, oft gegen den Schachcomputer spielte – und das sehr erfolgreich. Claudio ist ein großer Stratege, obwohl ihn eine ausgeprägte Legasthenie von einer großen Karriere abhielt (oder bewahrte, wie man es nun betrachtet…). Man kann es aber drehen und wenden wie man will: im Schach habe ich, seine große Schwester, nicht den Hauch einer Chance gegen ihn…

Claudio grinste breit, als er mich begrüßte. Ich mag meinen kleinen Bruder sehr, wir hatten unsere Wickel vor vielen Jahren, aber davon konnte mittlerweile keine Rede mehr sein. Claudio lud mich ein mich zu setzen und Angelina, die gerade die Blumen gegossen hatte, stellte das Kaffeeservice auf den Tisch. „Schön, dass du da bist!“ Claudio schob den Schachcomputer zur Seite und schmunzelte spitzbübisch: „Aber geraucht wird nicht bei uns, das weißt du hoffentlich!“ Natürlich wusste ich das, aber genauso wusste ich auch, dass Claudio und Angelina ein Raucherkammerl für ihre Gäste eingerichtet hatten, denn nicht wenige ihrer Freunde waren dem Laster verfallen… Wir tranken Kaffee, tauschten uns, aus während Claudio schließlich sein Anliegen ausbreitete… „Ich wäre dir echt dankbar, wenn du diese Geburtstagsrede für meinen Schwiegervater in Gedichtform schreiben könntest – du weißt, mir ist das einfach nicht gegeben. Ich bin kein großer Redner, aber du jonglierst mit Worten wie andere mit Bällen. Glaubst du, dass du das in den nächsten zwei Wochen schaffst?“

Ich überlegte kurz. Momentan war ich zwar nicht weiß Gott wie kreativ, aber ich würde dieses Gedicht schon zu Papier bringen, auch wenn mich die Muse einmal nicht so intensiv küsste… Als mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, fiel mir wieder auf, dass sich Angelina, meine Schwägerin, eher still verhielt und kaum etwas zur Unterhaltung beitrug. Als das Telefon läutete und sie den Tisch verließ, redete ich Claudio darauf an. „Habt ihr zwei eine Krise?“ Claudio schüttelte energisch den Kopf, er seufzte zwar, aber meine Zweifel konnte er auf Anhieb zerstreuen. „Es stimmt schon, Angelina leidet ein wenig, aber das liegt Gott sei Dank nicht an Problemen zwischen uns. Genau genommen geht es um ihre ältere Schwester Catherina…“ Ohne auf eine Äußerung von mir zu warten, fuhr er fort. „Catherina ist die ältere von den vier Schwestern, die Angelina noch hat. Caterina ist nicht mehr ganz jung und hat ein etwas verkrachtes Leben hinter sich. Andererseits hat sie es aber immer wieder geschafft, auf die Füße zu kommen. Mit den Männern hatte sie übrigens nie Glück, immer ein Talent sich an die falschen zu klammern, an die Typen die sie ausnutzten und unglücklich machten…“

Angelinas gedämpfte Stimme klang sehr angeregt aus dem Vorraum, das Telefonat würde wohl noch längern dauern… Claudio trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch. „Weißt du, Vivi, irgendwie hat sich die ganze Familie Gedanken gemacht, wie man etwas mehr Stabilität in Catherinas Leben bringen könnte. Sie hatte nun zwar endlich einen Job, in dem sie schon etliche Jahre arbeitete, auf der anderen Seite schien Catherina aber auch nicht ganz glücklich zu sein, besonders seit ein paar Monaten. Sie hatte kürzlich eine neue Wohnung bezogen, kannte niemanden recht in der Gegend und eine finanzielle Krise durch die vielen Ausgaben ließ sie ein wenig am Leben und an ihrem Tun verzweifeln…“ Claudio stand auf und öffnete das Fenster, ihm war offensichtlich heiß geworden. Der unüblich warme Februar wehte einen Hauch von Frühling in das Wohnzimmer. „Es wäre im Grunde alles so einfach gewesen.“ Claudio kehrte zum Tisch zurück. „Ein Arbeitskollege von mir, ein anständiger und sympathischer Kerl, war auch schon längere Zeit allein. Auch er hatte nicht unbedingt Glück in der Liebe gehabt, er ist halt ein sehr unscheinbarer Typ und eher leise und ruhig. Aber wir dachten, es biete sich gerade zu an, in dem Fall zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.“

Ich nickte, ich konnte mir denken, was dann passiert war. Catherina hatte nicht angebissen und Claudio bestätigte mich postwendend. „…ich verstehe es einfach nicht, Vivi. Sie wollte ihn einfach nicht, sie zeigte nicht das geringste Interesse an ihm. Zuerst war sie oberflächlich nett und freundlich zu ihm, aber dann zog sich Catherina zurück, als mein Kollege das Ganze etwas vertiefen wollte. Und zu Angelina hat sie nur gesagt, dass er es nicht wäre, sie spüre das und sie wolle einfach nicht mit einem Mann beisammen leben, den sie nicht liebe… Das wäre nicht ihre Vorstellung von einer Beziehung – da wäre sie alleine besser dran.“ Ich hob die Augenbrauen und dachte angestrengt nach. „Sag, ist sie vielleicht in jemand anderen verliebt? Kann das sein?“ Claudio nickte anerkennend. „Gut kombiniert, Vivi. Wir glaubten das auch. Caterina hat da einen Kollegen, der sehr gut aussieht und den sie, so scheint es, immer ein wenig angehimmelt hat. Angelina hat Caterina sehr offen auf ihn angeredet, aber die wehrte diese Annahme sehr direkt ab: sie wisse ohnehin schon lange, dass sich der Kerl nicht das Geringste aus ihr machen würde, und dass er ihr gefalle, sei ja nichts Unrechtes. George Clooney würde ihr schließlich auch gefallen ohne dass sie etwas von ihm erwarte…“

Angelina kam wieder ins Wohnzimmer zurück. Claudio und ich begannen wie auf Kommando von den Wetterkapriolen zu reden während mir meine Schwägerin noch eine Tasse Kaffee anbot… Irgendwann rief dann Albert an, dass er mich in einer Dreiviertelstunde abholen würde und während ich mich eher oberflächlich in die Unterhaltung mit Claudio und seiner Frau einbrachte, fragte ich mich, was wohl Caterinas Problem war… In erster Linie Beziehungsangst, fand ich für mich heraus. Allein sein mag schlimm sein, Einsamkeit kann zur Hölle auf Erden werden, aber wenn man all das lieber in Kauf nimmt als eine neue Bindung einzugehen, die quasi auf dem Frühstücksteller serviert wird, dann dürften wohl vorrangig ganz, ganz schlimme Erfahrungen dafür verantwortlich sein. Einmal abgesehen davon, dass nun mal nicht der erstbeste „Kuppelkandidat“ automatisch gleich der Richtige sein musste, auch das sollte man Caterina zugestehen. Man verliebt sich oder man verliebt sich eben nicht… da hatte die Frau grundsätzlich schon Recht. Die Wahrheit sieht eben doch etwas anders aus. Narben und Wunden aus früheren Beziehungen können in jedem Fall so schlimm schmerzen, dass man nicht mehr die Kraft hat eine Veränderung zu bewirken – oder im besten Fall: man braucht dazu viel Zeit und Geduld… und Eigenliebe…

© Vivienne

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