Vor langer Zeit hielt an einem Tag im März der Frühling wieder Einzug im Land. Die Menschen atmeten nach einem langen, kalten Winter auf und hießen ihn willkommen. Der Frühling erwies sich als perfekter Zauberer, der die scheinbar toten Bäume zum Leben erweckte und aus der dunklen Erde saftiges Gras und wunderbare Blumen hervorlockte. Die Menschen waren glücklich und sie verliebten sich wieder. Es kam der April und das Osterfest wurde gefeiert. Dann folgte der Mai und schön langsam sehnten sich die Menschen nach dem Sommer: nach dem Heranreifen der Früchte und des Getreides, nach Badewetter und nach herrlichem Sonnenschein. Doch der Sommer erschien nicht, in den Nächten konnte es durchaus noch empfindlich frisch werden und gefrieren und die Temperaturen stiegen nicht. Die Blüten der Bäume fielen ab und keine Äpfel oder Birnen begannen heranzureifen. Und die Knospen der Rosen wurden vom nächtlichen Frost geschädigt und blühten nicht…
Was war passiert? Der Frühling fragte sich selbst, was los war. Sein Bruder, der Sommer hätte ihn Ende Mai treffen sollen und ihn in den wohlverdienten Urlaub entlassen sollen. Aber der Sommer erschien nicht zum Treffpunkt, auch später nicht. Der Frühling war ratlos. Was sollte er tun? Er hatte zwar die Kraft den Winter zu vertreiben, aber er vermochte nicht, die Sonne hoch über den Himmel aufsteigen zu lassen, von wo sie den Menschen Lebenskraft einhauchte und Obst, Gemüse und Getreide reifen ließ. Noch schlimmer war, dass keine Jungtiere geboren wurden, und wenn doch, blieben diese klein und schwach. Er schickte Brieftauben aus, die seinen Bruder ausfindig machen und ihn zur Einsicht bewegen sollten, doch noch hatte er von seinen Boten keine Rückantwort erhalten. Mehr als alles machte er sich Sorgen um seinen Bruder und der Kummer der Leute, die so wie er auf den Sommer hofften, tat ihm weh.
Was liebten ihn die Menschen nicht, wenn er die Herrschaft des Winters beendete! Aber nun hassten sie ihn, denn der ewige Frühling ruinierte das Land. Die Frühlingsblumen und die Bäume hatten aufgehört zu blühen, aber die Sommerblumen wuchsen im frühlingshaften Klima nicht heran, sie blieben unscheinbar und eine Hungersnot kündigte sich an. Die Menschen machten ihn dafür verantwortlich und er wusste nicht, wie er ihnen helfen sollte. Eines Tages kam doch eine der Brieftauben zurück von ihrer Mission und berichtete nichts Gutes. „Der Sommer ist in den Bergen. Er hat Abschied genommen von der Welt. Das alljährliche Einerlei macht ihm zu schaffen. Jedes Jahr dasselbe Prozedere und er erträgt es nicht mehr. Nichts wird sich jemals ändern und die Menschen sind undankbar…“ Der Frühling erschrak. Er hatte zwar gewusst, dass sich hinter der stolzen, schönen Fassade seines Bruders ein schwermütiger Charakter verbarg, der vieles in Frage stellte. Aber dass der so an seinem eigenen Wirken verzweifeln könnte, hatte er, der Frühling nicht geahnt…
Er machte sich auf den Weg in die Berge und die Brieftaube wies ihm den Weg. Der Frühling musste mit dem Sommer reden und ihm wieder neuen Mut machen. Die Welt würde zugrunde gehen, wenn sein Bruder nicht besseren Mutes würde. Und das ahnte der Schwerblütige gar nicht, er hing nur seinen Gedanken nach und ließ sich gehen, weil sich seine Aufgaben, sein Sein nicht ändern würden… Der Frühling schüttelte den Kopf. Was hätte er sagen können? Nach dem Winter das Land zu beleben war auch nicht lustig und manchmal waren die Menschen ungehalten, wenn er nicht schnell genug kam und das Land vom Winter befreite. Aber ihre Freude, ihr Glück und ihre Dankbarkeit bestätigten ihn, jedes Jahr wieder… Er traf den Sommer in einer Höhle, mit einer Tasse Kamillentee, in eine Decke gehüllt. Fast hätte er seinen Bruder nicht wiedererkannt denn dessen Gesicht war im fahlen Schein einer Kerze in der dunklen Höhle verblasst. Ein Taschentuch lag neben ihm und der Frühling fragte sich, was seinem Bruder bloß zugestoßen war…
Der wollte zuerst nicht reden, aber dann gestand er endlich, was er auf der Seele hatte. „Die Menschen kritisieren uns ständig. Sie loben uns, sie heben uns hoch und lassen uns fallen. Ein paar verregnete Tage im Sommer. Gewitter und Hagel in der Nacht – das gehört nun mal auch zu meiner Arbeit. Sie begreifen das nicht, sie machen mir Vorwürfe. Und ist es nicht bei dir ganz ähnlich?“ Der Sommer wandte dem Frühling sein blasses Gesicht zu. „Schneegestöber im April, ein paar frostige Nächte – und die Menschen sind ungehalten. Wie kannst du damit leben?“ Der Bruder verstand ihn wohl und er dachte kurz nach, was er dem Sommer erwidern sollte. „Aber ist das nicht unser Schicksal? Meinst du nicht, dass der Mensch einfach so ist? Recht machen kann man es ihm nie!“ erläuterte er dem Sommer. „Darum müssen wir uns nicht kümmern. Es ist unsere Aufgabe, dass wir nicht nur Rosen ernten. Und liebliche Blumen… Das Leben gibt uns recht. Das Leben und das Gedeihen auf dieser Welt.“ Er reichte seinem Bruder die Hand. „Komm, folge mir. Bringen wir das Leben zurück in dieses Land.“
Der Sommer zögerte zuerst, doch dann ließ er sich helfen und gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg. Die Brieftaube folgte ihnen und als die Menschen beide Brüder, den Frühling und den Sommer, erkannten, liefen sie zusammen und jubelten. Als der Sommer diese Freude bemerkte, kehrte die gesunde Farbe in sein Gesicht zurück und er lächelte. Seine alte Freundin, die Sonne, verbeugte sich vor ihm und überzog den Himmel mit strahlendem Blau. Da wusste der Sommer, wie unvergleichlich seine Aufgabe doch war… Der Frühling ließ erleichtert seine Hand los, die Regentschaft war endlich übergeben…
Vivienne
