Home Kolumnen Die bunte Welt von Vivienne
21.11.2005, © Vivienne
Die große Puppe
Wenn ich mich zu erinnern versuche, wann ich zum ersten Mal als Kind Weihnachten bewusst miterlebt habe, tue ich mir ziemlich schwer. Ich kann es nicht mehr genau sagen, ich muss schon um die fünf Jahre alt gewesen sein, als meine Erinnerung ganz intensiv einsetzt: Ich sehe mich vor mir, wie ich mit einem Teil meiner jüngeren Geschwister unter dem Weihnachtsbaum mit den brennenden Kerzen sitze und damit beschäftigt bin, die Geschenke auszupacken. Und eben habe ich einen langen, schmalen Karton entdeckt und bemühe mich eifrig mit tollpatschigen Händchen den Karton zu öffnen: Schließlich schaffte ich es, den Deckel abzunehmen. In dem Karton befand sich die schönste Puppe, die ich mir damals vorstellen konnte und sie gehörte mir
Diese Puppe war riesengroß, zumindest im Vergleich zu mir, sie muss fast einen Meter lang gewesen sein und hatte dunkles, lockiges Haar. Ihre Kulleraugen lachten mich blau an und das lila-rosa Kleid mit Rüschen war wunderschön, wie das einer Prinzessin Mit einem Wort: ich war begeistert. Mehr als das, richtig gehend entzückt. Ich hob die Puppe mit aller Kraft aus dem Karton heraus und sah sie mir genau an, von Auge zu Auge. Mein Kindheitstraum war wahr geworden und Susi und ich, wie ich die Puppe nannte, waren von diesem Augenblick an unzertrennlich. Sie musste mich ab sofort überall hin begleiten, sogar ins Bett, wo wir nebeneinander lagen, fast wie zwei Schwestern. Ich war ja nur unwesentlich größer als die Puppe
Das Faszinierende an dieser Puppe lag für mich in der Beweglichkeit ihrer Arme und Beine und sogar ihres Kopfes. Als ich noch so klein war, gab es solche Puppen noch nicht überall zu kaufen und ich besaß einige Puppen, die unbeweglich waren oder gar noch über einen Stoffbauch verfügten also megaout im Vergleich zu den Barbies und Luxuspuppen von heute. Obwohl ich natürlich nicht ahnen konnte, was sich in den folgenden fünfunddreißig Jahren in dem Bereich tun würde, erfüllte mich der Besitz dieser Puppe mit kleinkindlichem Stolz. Zig Mal am Tag band ich die roten Schleifen im Haar der Puppe neu und ich wurde nicht müde mit ihr an der Hand durch das Haus zu spazieren um ihr alles zu zeigen Als wäre sie eine Freundin von mir und nicht eine teure, leblose Puppe.
Susi war also meine ganze Freude geworden und wenn ich abends ins Bett ging, hatte mein Patschhändchen die Hand der Puppe umklammert. Diese Angewohnheit sollte mir aber zum Verhängnis werden, oder besser gesagt der kleinen Susi. Eines Nachts muss ich so unglücklich auf ihr zu liegen gekommen sein, dass sich der Kopf, der über ein raffiniertes Drahtsystem mit den Armen und Beinen verbunden war, von den Schultern löste. Mein Vater gab sich alle Mühe, mit Hilfe anderer Drähte den Kopf wieder zu fixieren, was ihm auch so einigermaßen gelang, aber irgendwie schlenkerte der Kopf seither immer ein wenig hin und her. Ich war entsetzt: was war nur aus meiner wunderschönen Prinzessin geworden?
Nach und nach verlor ich das Interesse an der Puppe. Vorher war sie perfekt für mich gewesen, aber mit dem Wackelkopf musste ich mich nur ärgern! Es machte mir keine Freude mehr, die Schleifen in den dunklen Locken zu binden. Schließlich nahm ich die Puppe auch nicht mehr mit ins Bett und durch das Haus spazieren wollte ich auch nicht mehr mit ihr. Sie gefiel mir nicht mehr . Ich begann mich wieder vermehrt mit anderen Spielsachen zu befassen. Irgendwann landete die Puppe am Dachboden beim ausrangierten Spielzeug. Ich muss immer schmunzeln, wenn ich daran zurückdenke. Es war fast erschreckend, wie oberflächlich und kalt ich mich im Grunde damals verhielt – mein Desinteresse an der behinderten Puppe ließ keinen anderen Rückschluss zu. Wenn man von dieser Eigenschaft auf mein damaliges Wesen schließt, wirft das in der Tat kein gutes Licht auf mich.
Auch wenn ich damals noch ein kleines Kind gewesen war diese Oberflächlichkeit macht mich doch bisweilen nachdenklich. Und mir wird bewusst, dass erst das Leben und meine Erfahrungen mich zu einem anderen, besseren Menschen gemacht haben. Zu einer Frau, die ganz sicher keinen Freund und keine Freundin wegen eines körperlichen Mankos stehen lassen würde. Solche Kindheitserinnerungen machen einem trotzdem bewusst, dass man viele unterschiedliche Anlagen in sich trägt und es auch an einem selber liegt ja zum einen oder zum anderen Wesenszug zu sagen
Vivienne
Redakteure stellen sich vor: Vivienne
Alle Beiträge von Vivienne