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31.03.2005, © Vivienne

Ein Fall von Egoismus (?)

Der Mensch in der westlichen Welt wird immer älter – medizinische Errungenschaften haben das möglich gemacht. Das Leben kann also enorm verlängert werden, aber oft sind die alten Leute gebrechlich und können nicht mehr für sich selbst sorgen. Ja, bisweilen sind sie so siech, dass sie gepflegt werden müssen. Wo immer es finanziell möglich ist, übernehmen Pflegeheime diese Aufgabe, auch wenn sich mancher Pensionist dabei abgeschoben und im Stich gelassen fühlt – wer möchte nicht vorzugsweise bei seinen Lieben den Lebensabend verbringen als im Grunde genommen unter Fremden, auch wenn die Verwandten im besten Fall bei jeder Gelegenheit auf einen Besuch vorbeikommen?

Die Entscheidung ist in jedem Fall eine Gratwanderung, ob man ein nahes Familienmitglied der Obhut eines Pflegeheimes überlässt, und nicht immer ist es Egoismus von Seiten der Verwandten, die so einen Schritt nötig machen… Es ist Jahre her, dass ich sie das letzte Mal gesehen habe. Sie war eine mittelgroße Frau, wohl um die siebzig und meistens trug sie – wie viele alte Frauen – ein gemustertes Kopftuch. Eine Bäuerin aus der Gegend war sie, mittlerweile auch im Ausgedinge und wenn immer ich sie im Zug traf, war sie meistens ins Gespräch mit anderen Leuten vertieft. Sie liebte es unter die Leute zu kommen, sich mit ihnen auszutauschen – die Berufung als Bäuerin bringt es wohl mit sich, dass man gerade als Frau nicht so oft vom Hof weg kann, weil immer so viel zu tun ist.

Nach einiger Zeit erkannte ich dann, dass die Altbäuerin bei ihren Fahrten in die Landeshauptstadt ihre Mutter besuchte. Regelmäßig wie ein Uhrwerk Dienstag und Donnerstag fuhr sie für zwei Stunden ins Landspflegeheim um diese mit dem letzen Tratsch zu ersorgen. Ich habe selber wenig mit der Frau geredet, dazu kannte ich sie zu wenig, aber wenn ich allein im Zug sitze, höre ich gerne den Gesprächen anderer Leute zu. Ich bin zweifellos verbal nicht schlecht  beschlagen, aber noch besser kann ich zuhören und schön langsam formte sich unter den kurzen Gesprächsteilen, deren Zeuge ich wurde, die Geschichte einer Greisin heraus, die es ihrer Verwandtschaft nicht unbedingt leicht gemacht hatte…

Neunzig Jahre war diese Frau, die Mutter der Altbäuerin, gerade geworden. Geistig rege nahm sie viel Anteil an ihrem Umfeld, aber sie konnte nicht mehr gehen, nicht mehr aufstehen und außerdem war bei den einfachsten Dingen auf die Mithilfe von Tochter und Schwiegertochter angewiesen. Selbst der Besuch des WCs gestaltete sich zu einer Tortur und unschwer war den Worten der Altbäuerin zu entnehmen, dass ihre Mutter mittlerweile auch schon sehr eigen geworden war: „Am Vormittag sagte sie mir, sie wäre hungrig und wollte etwas essen. Also kochte ich ihr eine Suppe und brachte sie ihr ans Bett, worauf sie mich anfuhr: Du glaubst aber nicht, dass ich jetzt schon esse! Jetzt mag ich nichts!“

Dabei waren aber trotzdem solche Eigenheiten noch vergleichsweise harmlos im Gegensatz zu anderen Problemen. Viel unangenehmer kam nämlich zum Tragen, dass die Greisin, die bei guter Verköstigung recht beleibt geworden war, ständig aus dem Bett oder in das Bett zu tragen war. Und irgendwann waren die beiden Frauen mit dieser Arbeit überfordert. Beide fast siebzig hatten sie selber Rückenprobleme, die immer ärger wurden. Als die Schwägerin einen Bandscheibenvorfall erlitt, streikte die die Altbäuerin. Allein konnte sie nicht mehr, wollte sie nicht mehr. „Das wäre über meine Kräfte gegangen. Nachts konnte ich so schon vor lauter Schmerzen oft nicht viel schlafen. Es musste sich etwas ändern.“

Der Familienrat tagte. Und beschloss schließlich schweren Herzens, die Uroma in ein Pflegeheim zu geben. Diese reagierte mit fassungsloser Wut! Ihre Familie schob sie ab! Obwohl man sich gezielt darum bemüht hatte, ein wohnliches und gemütliches Heim auszuwählen, obwohl für alle sieben Tag in der Woche jeweils für den Nachmittag verwandtschaftlicher Besuch organisiert wurde, war die Frau tödlich beleidigt. „Ein halbes Jahr fast hat sie deswegen nichts mit uns gesprochen. Sie war richtig verbittert, obwohl wir ihr immer wieder erklärten, dass es anders nicht mehr machbar gewesen war. Erst nach und nach ist das Eis gebrochen und sie freundete sich mit der neuen Situation an.“

Und so sah ich die Altbäuerin oft, Dienstag und Donnerstag, wenn sie ihre Mutter besuchte. So manche Geschichte über die Alte habe ich gehört, sie, die zuletzt noch 100 Jahre alt werden wollte. Sie dürfte das doch nicht ganz geschafft haben, denn mit einem Mal sah ich ihre Tochter nicht mehr so oft. Und auch ohne Erklärungen merkte ich, dass sie keine Pralinen und keinen Kuchen mehr in der Tasche trug… Ist es Egoismus, wenn man die Eltern oder Schwiegereltern in ein Alters- oder Pflegeheim gibt? Ganz abgesehen vom finanziellen Faktor – ein Platz im Altersheim kostet nicht wenig! – kann man nicht pauschal verurteilen. Es ist ein Unterschied, ob „abgeschoben wird“ – Klappe zu, Affe tot! – oder einfach persönliche Umstände die Pflege durch Verwandte unmöglich oder nicht zumutbar machen. Jeder hat seine eigenen Eindrücke, aber egoistisch ist nicht immer der, der so einen Schritt veranlasst…
 

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