Der Fußabstreifer – Die bunte Welt von Vivienne

Bei einem Besuch neulich bei meiner Mutter spazierten Albert, mein Mann, und ich wieder durch den Ort. Die Schulen hatte ich ihm schon einmal gezeigt, und dennoch hielten wir dort auch diesmal für eine kurze Besichtigung. „Als ich in die Schule kam, waren Volksschule und Hauptschule in einem Gebäude“, erläuterte ich Albert. „Erst später wurde die Volksschule errichtet, und das andere Objekt wurde zur Hauptschule erklärt. Von den Flachdächern habe ich dir schon erzählt? Die galten damals als so ultra-modern und waren letztlich so ein großer Reinfall.“ Ich musste in der Erinnerung lachen. „Unsere fortschrittlichen Kommunalpolitiker wollten halt als besonders modern und aufgeschlossen da stehen…“ Ich stand mit meinem Mann vor der Hauptschule. „Natürlich sieht jetzt alles ganz anders aus, aber hier stand eine große Eibe und unter den Wurzeln versteckt lagen dort die Zigaretten von ein paar Schülern. In der Mittagspause, aber auch vor oder nach der Schule wurde dann heimlich geraucht… Bis unser Schuldiener, Herr Grüneis, die Schüler erwischt hat.“ Ich musste grinsen, als ich mir die Szene vorstellte.

„Die Kinder sind aber schnell davongelaufen, während Herr Grüneis nicht schnell genug war, sie einzuholen und zu fangen. Ja, der arme Herr Grüneis, der hatte nichts zu lachen in seinem Leben…“ „Wegen der kecken Schüler?“ wollte Albert wissen. Ich schüttelte den Kopf. „Dass ihn die Schüler nicht ernst genommen haben, war sicher sein geringstes Problem. Nein, Herr Grüneis stand unter dem Pantoffel seiner Frau, die sehr dominant war. Sie machte Herrn Grüneis das Leben sehr, sehr schwer…“ Ich nickte zur Bekräftigung. „Sie hatte dem Vernehmen nach das Geld mit in die Ehe gebracht, denn sie war verwitwet. Der erste Mann soll um einiges älter gewesen sein als sie, aber er war gestorben, als sie noch recht ansehnlich und attraktiv aussah. Und Herr Grüneis verliebte sich in sie und begann sie zu umwerben.“ Ich schmunzelte, als ich mir die Szenerie in Erinnerung rief. „Beide waren sie eher kleinwüchsig, aber Frau Grüneis war ein richtiger Giftzwerg. Sie keifte und hatte scheinbar große Freude ihn herum zu kommandieren. Am besten und am liebsten noch vor allen Leuten! Die Zeit in der Schule ist  für Herrn Grüneis vergleichsweise gemütlich und beschaulich abgelaufen… trotz der vorlauten und frechen Schüler.“

Ich hängte mich bei Albert ein und wir gingen die Straße wieder zurück. „War die Frau Grüneis immer schon so gewesen?“ Mein Mann konnte eine gewisse Neugierde nicht verbergen. „Ich weiß es nicht genau“, musste ich zugeben. „Ich war schließlich damals noch ein Kind. Die Zusammenhänge kannte ich nicht nur nicht, ich habe sie auch später nicht mehr erfahren. Persönlich glaube ich, dass Frau Grüneis nach dem Tod ihres ersten Mannes gehofft hatte, noch einmal eine ähnlich gute Partie zu machen – und zwar diesmal mit einem jüngeren Verehrer. Aber so ein Galan fand sich in unserer ländlichen, etwas abgeschiedenen Gegend nicht. Und Herr Grüneis blieb letztlich der einzige, der sich ernsthaft um sie bemühte. Sie gab seinem Werben zwar schließlich nach, aber auf ihre Art ließ sie ihn dauernd spüren, dass er nicht ihr Traummann war. Und sie degradierte ihn nach und nach zu ihrem Fußabstreifer.“ Ich blieb stehen und drehte mich zu Ali. „Das Keppeln und Piesacken ging oft in der Früh schon los. Wenn der Tee zu heiß war oder das Brot nicht mehr knusprig oder die Butter zu hart – Herr Grüneis musste dafür büßen!“

„Au weia!“ entfuhr es meinem Mann. „Der arme Kerl! Seine Frau muss eine regelrechte Bissgurn gewesen sein. Da bekommt man nach so vielen Jahren noch Mitleid! Warum hat er sich das nur gefallen lassen? Ich verstehe das nicht!“ Ali und ich setzen eingehängt unseren Spaziergang fort. Ich zuckte die Achseln. „Schwer zu sagen… Vielleicht, weil er Angst vor dem allein sein hatte. Das kann ich mir schon vorstellen…“ Ich machte eine Pause. „Vielleicht aber hat er sie wirklich geliebt und sich einfach bemüht, über vieles hinweg zu sehen. Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Aber mit einer Annahme hast du sicher Recht – leicht hat sie es ihm nicht gemacht sie zu lieben. Ganz bestimmt nicht!“ Wir hingen unseren Gedanken nach – was ein Mensch aus Liebe tut, ist vielfältig. Vor allem, wenn nichts wirklich zurück kommt oder zurück zu kommen scheint… „Wie ging denn diese seltsame Liebesgeschichte weiter?“ Albert riss mich mit seiner Frage aus meinen Überlegungen.

„Weißt du, Albert, Frau Grüneis ist eines Tages überraschend krank geworden. Sehr krank sogar. Ihr Mann hat sich die ganze Zeit rührend um sie gekümmert, hat sie gepflegt und sie im Spital besucht, wenn sie sich wieder einmal in Anstaltspflege begeben musste. Die Ärzte konnten ihm aber eines Tages keine Hoffnungen mehr machen. Ich weiß noch, Herr Grüneis ist damals in der Schule in einer Ecke des Turnsaals gesessen und hat nur geweint: sie war doch sein Lebensinhalt, seine große Liebe. Auch wenn seine innigen Gefühle von seiner Frau nicht in dem Maß erwidert wurden. Eigentlich war er ja nur ihr Pantoffelheld gewesen und doch wollte er die Ehe mit ihr für sich bestimmt nicht so negativ wahrnehmen. Jedenfalls starb sie bald darauf und er besuchte sie regelmäßig an ihrem Grab und er hat es über all die Jahre, die er sie überlebt hat, immer schön hergerichtet. Mit Blumen, mit Kerzen – einfach rührend, findest du nicht?“ Albert lächelte mich an. „Seltsam, welche ungewöhnlichen Blüten die Liebe treibt. Das ist die wahre Liebe…“

Das ist die wahre Liebe,
die immer und immer sich gleich bleibt,
wenn man ihr alles gewährt,
wenn man ihr alles versagt.
Goethe

Vivienne

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