Sara Rebecca Puorger
Judith Weisman ging mit unsicheren Schritten durch die Strassen von Berlin. Mit traurigen Blicken suchte sie die ausgebombten Häuser nach solchen ab, die den Krieg überlebt hatten. Es war ein trostloses Bild. Judiths Herz pochte bis zum Hals vor Nervosität, als sie sich langsam den ihr vertrauten Quartieren näherte. Es waren nicht viele Häuser, die hier noch intakt waren. Ihr Mut sank mit jedem Schritt, der sie ihrem Ziel näher brachte. Was, wenn es nicht mehr da war? Was, wenn es ihn nicht mehr gab? Was, wenn…..? Sie bog um die letzte Ecke und der Anblick verschlug ihr die Sprache. Das schöne, stattliche Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, war halbwegs vom Erdboden verschwunden. Die wenigen scheibenlosen Fenster, die noch als solche erkennbar waren, starrten sie an wie die leblosen Augen eines Toten. Die einst weisse Fassade war schwarz verkohlt. Genauso die wenigen Dachbalken, die ziellos in den Himmel hinausragten. Für einen Augenblick befürchtete Judith, ihre Knie würden versagen und ihre dünnen Beine unter ihr nachgeben. Doch obwohl sie der Anblick mehr erschütterte, als sie erwartet hatte, fasste sie sich schnell wieder. Sie zwang sich die letzten Schritte bis zum Haus zurückzulegen. Als sie schliesslich so nahe war, dass sie mit der ausgestreckten Hand die Fassade berühren konnte, brach sie zusammen. Wie eine Lawine brach die ganze Last der letzten sechs Jahre über sie herein. Der Schmerz des Verlustes ihrer Eltern und ihrer Schwester, die alle drei in den Gaskammern der Nazis ums Leben gekommen waren, übermannte sie erneut. Das Grauen der vergangenen Jahre liessen sie erneut erzittern und kraftlos kauerte sie neben der noch intakten Hausmauer auf den Boden. Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis ihre Tränen versiegten und sie sich wieder erholt hatte. Sie blickte auf und der eben noch vom Schmerz gebrochene Blick verhärtete sich. Sie musste sich zusammennehmen. Jetzt, wo sie endlich am Ziel war, durfte sie nicht aufgeben. Sie hatte sechs lange Jahre der Verfolgung und der Misshandlungen, des Hungers und der Kälte überlebt. Jetzt musste sie nur noch einmal stark sein. Sie musste ihn finden und ihr Versprechen einlösen. Mit klammen Fingern zog sie sich and der Hauswand hoch. Er musste noch hier sein! Sie hoffte inständig, dass er nicht mit dem zerbombten Teil des Hauses für immer verloren war. Vorsichtig tastete sie die Mauer ab. Jede kleine Unebenheit liess ihr Herz vor Erwartung höher schlagen. Und jedes Mal war die Enttäuschung gross, wenn es nicht die gesuchte Stelle war. Doch da endlich! Da war er! Hastig tastete sie die Stelle ab und wirklich, sie hatte ihn gefunden. Der Stern in der Fassade!
Wieder traten ihr Tränen in die Augen, aber diesmal waren es Tränen der Freude, Tränen der Hoffnung. Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, als sie den Stern gemeinsam mit Eli in die Fassade geritzt hatte. Sie war sechzehn Jahre alt gewesen und das erste Mal verliebt. Damals war ihre Welt noch in Ordnung und alles drehte sich nur um Eli Goldstein, den achtzehnjährige Nachbarssohn. Sie erinnerte sich noch genau an jenen Tag, als ob es erst gestern gewesen wäre.
„Du musst ihn aber mit sechs Zacken zeichnen. Der Stern Davids, der Stern unseres Volkes.“ Eli lachte, als er Judith das Messer in die Hand drückte.
„Wofür hältst du mich? Ich weiss wie der Davidsstern aussieht!“
Mit einem herausfordernden Blick nahm sie das Messer entgegen.
„Aber wenn mein Vater mich erwischt, dann krieg’ ich mindestens ein halbes Jahr Hausarrest. Also steh’ lieber Wache und warne mich, wenn jemand kommt.“
„Ay ay mam’ Sie können sich auf mich verlassen.“
Liebevoll zog er sie an ihrem langen braunen Zopf und schaute ihr dann zu, wie sie sorgfältig einen kleinen Davidsstern in die saubere, leuchtend weisse Fassade ritzte. Als sie damit fertig war, drehte sie sich um und warf ihm einen Blick so voller Zuneigung zu, dass er nicht anders konnte, als sie in die Arme zu nehmen und ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund zu geben. Für Judith kam das so plötzlich, dass es ihr den Atem verschlug. Aber sie genoss ihren ersten Kuss in vollen Zügen und war enttäuscht, als Eli sie viel zu schnell wieder losliess. Sie hätte sich gewünscht, dass er sie noch einmal festhielt und sie an sich drückte. Stattdessen lächelte er sie verlegen an, nahm ihr das Messer aus der Hand und rannte ohne ein weiteres Wort davon.
Seit diesem ersten Kuss trafen sich Judith und Eli jeden Tag bei ihrem Stern. Ihre Eltern merkten bald, was los war, aber sie hatten nichts dagegen. Im Gegenteil. Sie hatten schon bei Judiths Geburt mit den Goldsteins abgemacht, dass ihre beiden Kinder einmal ein gemeinsames Leben führen sollten. Sie waren zwar beide noch etwas jung, aber sie hatten noch alle Zeit der Welt. Sie sollten zuerst richtig erwachsen werden. An eine Heirat der beiden wollten sie erst in drei, vier Jahren denken. Bis dahin sollten die beiden ihr Leben noch unbeschwert geniessen können.
Aber schon ein Jahr später ereignete sich etwas, das das Leben aller vollkommen verändern sollte. Judith war gerade siebzehn Jahre alt geworden, als Adolf Hitler an die Macht kam. Und mit ihm kam die Schikanierung und später die Verfolgung der Juden.
Seit der Machtübernahme durch Hitler bis zu dem Tag, an dem Judith Eli das letzte Mal gesehen hatte, vergingen noch beinahe sechs Jahre. Judiths Gedanken wanderten von den schönen Erinnerungen zu dem Tage, als sie Eli das letzte Mal in den Armen gehalten hatte. Es war genau hier neben ihrem Stern in der Fassade gewesen. Sie war damals fast 23 Jahre alt, als die Nazi kamen und sie aus den Armen ihres geliebten Elis rissen. Noch jetzt, sechs Jahre später, spürte sie Elis Lippen an ihrem Ohr:
„Wir werden uns wiedersehen, Judith. Egal wohin sie uns bringen oder wie lange sie uns festhalten. Wir werden uns wiedersehen. Vergiss ihn nie, den Stern unseres Volkes, den Stern unseres Liebe. Hier werden wir uns wiedersehen. Versprich es mir Judith! Wir werden uns hier wieder treffen, egal was geschieht. Wir kommen hierher zurück.“
Dann war er weg, mitgeschleift von zwei schwarzangezogenen Nazis. Auch sie wurde an jenem Tag verschleppt. Zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester wurden sie zuerst nach Ravensbrück gebracht, wo sie zwei Jahre lang unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten mussten. Danach verfrachtete man sie in einen Viehwagon, zusammen mit hunderter anderer und brachte sie nach Auschwitz ins Konzentrationslager.
Judith zitterte wieder am ganzen Körper, obwohl die Sonne warm auf sie hinunterschien. Sie drückte die Augen fest zusammen, um die Erinnerung zu verdrängen. Sie wollte vergessen, was geschehen war. Es war vorbei und sie hatte überlebt. Ihre Liebe zu Eli und die Hoffnung, ihn eines Tages wiederzusehen, hatte sie am Leben erhalten. Und jetzt war sie zurückgekehrt. Sie hatte ihr Versprechen eingehalten und war zurückgekehrt zum Stern ihres Volkes, dem Stern ihrer Liebe, dem Stern in der Fassade. Sie lebte und auch der Stern war noch immer hier. Sie war zurückgekehrt und sie wusste, dass auch Eli zurückkehren würde. Sie wusste, wenn sie nur jeden Tag hierher zu ihrem Stern zurückkehrte, würde sie ihn wiedersehen. Eines Tages würde er hier stehen und sie erwarten. Und dann wären sie wieder vereint, ihr Eli und sie.
Ein halbes Jahr später machte sich Judith wie jeden Tag auf, um bei ihrem Stern auf ihren Geliebten zu warten. Sie erwartete das halb eingefallene Haus wie immer anzutreffen. Doch als sie um die Ecke bog, schien es, als ob ein Blitz ihr Herz schmerzlich durchzucken würde. Die Überreste des Hauses waren dem Erdboden gleichgemacht worden. Einfach so über Nacht. Mit durch Tränen getrübtem Blick rannte sie auf den Trümmerhaufen zu und ziellos begann sie darin nach ihrem Stern zu suchen. Sie durfte ihren Stern nicht verlieren, ihre letzte Hoffnung Eli jemals wiederzusehen. Sie wollte die Suche schon verzweifelt aufgeben, als sie jemand an der Schulter fasste. Erschrocken drehte sie sich um. Durch ihren Tränenschleier blickte sie in zwei ihr so vertraute Augen.
„Ist es das, was du suchst?“
Mit einem Lächeln streckte ihr Eli ein Stück Fassade hin, auf dem ihr kleiner Stern unversehrt, jedoch noch immer schwarz von Russ entgegenstrahlte. Er zog sie hoch, nahm sie fest in seine Arme und flüsterte ihr ins Ohr:
„Ich habe dir versprochen zurückzukommen. Der Stern hat über uns gewacht. Die ganze Zeit war er in meinem Herzen, seit dem Tag, als du ihn in die Fassade eingeritzt hast. Jetzt sind wir wieder vereint und niemand kann uns mehr trennen.“