Die große Liebe

Drum prüfe, wer sich ewig bindet… – wem ist dieser Spruch von Goethe noch nicht bekannt? Zu viel zu prüfen oder womöglich dann unüberlegt einer neuen Liebe zu folgen kann auch ins Auge gehen. Beobachtet an einer früheren Bekannten, besser gesagt, der Tochter eines ehemaligen Vorgesetzten. Birgit Gimpel war, als ich sie kannte, ein nettes Mädchen Mitte zwanzig gewesen, gut gebaut und durchaus sympathisch. Keine von der Sorte jedenfalls, die einem bei jeder Gelegenheit fühlen lassen, dass sie von der Chefetage abstammen. Ganz im Gegenteil, sie arbeitete mit wie eine von uns und drückte sich auch nicht vor Journaldiensten am Wochenende…

Verlobt war Birgit seit über fünf Jahren, also einer halben Ewigkeit, mit Sebastian Kaiser, der rechten Hand ihres Vaters Franz Gimpel. Es war immer schon unschwer zu erkennen gewesen, dass Birgit nicht mit derselben Hingabe an Sebastian hing wie er an ihr. Ich weiß nicht, ob Birgit einmal wirklich in ihn verliebt gewesen war, aber jetzt sah es so aus, als wäre die Luft etwas heraußen zwischen den beiden, obwohl Sebastian sich überaus verliebt und aufmerksam ihr gegenüber gab. Sebastian, nur wenig älter als Birgit, war ein fescher, junger Mann und hätte mir damals, ehrlich gesagt, auch recht gut gefallen, aber Birgit war anscheinend nie so stark in ihn verliebt gewesen und ich hatte damals schon den Verdacht, dass sie vor allem wegen ihres Vaters mit dessen verdienten Mitarbeiter, den Sebastian ja schon seit langem abgab, eine Beziehung eingegangen war.

Offensichtlich war also Birgit in dieser Beziehung nicht so recht glücklich, ja, ich fragte mich sogar im Nachhinein, ob sie es je gewesen war. Trotzdem hätte ich nie erwartet, dass Birgit tatsächlich den Absprung aus dieser Bindung wagen würde. Aber Birgit wagte, weil sie sich verliebte und diesmal wirklich mit Allmacht und Feuer. Der neue Fahrer eines Kunden hatte es Birgit überraschend angetan, bevor ich überhaupt richtig registriert hatte, dass ihr der gefiel, tauchte Birgit plötzlich nicht mehr am Arbeitsplatz auf und in der Chefetage herrschte Trauerstimmung. Nur nach und nach sickerte durch, dass Birgit sich völlig überraschend von Sebastian getrennt hatte um zu ihrer neuen Liebe zu ziehen…

Das sorgte natürlich für Gesprächsstoff in unserem Unternehmen, auch wenn Gimpel Senior selber öfter dazwischenfuhr und sich den Tratsch rund um seine Tochter verbat. Sebastian Kaiser selber wirkte völlig gebrochen und nahm sich zunächst ein paar Tage Urlaub, um Distanz zu gewinnen. Gebracht hat es ihm nicht viel, er sah nach den drei Tagen noch immer müde und krank aus und mir wurde bewusst, dass die Beziehung zu Birgit zumindest von seiner Seite wirklich auf großen Gefühlen aufgebaut gewesen sein musste. Aber Birgit, die sich offenbar ein Leben mit Sebastian nie mit letzter Konsequenz vorstellen hatte können, hatte bei der erstbesten Gelegenheit einen neuen Anfang gewagt und den langjährigen Lebensgefährten vor den Kopf gestoßen… Obwohl er sie wirklich liebte.

Richtig oder falsch? Wir diskutierten in der Arbeit viel darüber, besonders, wenn der Chef oder Sebastian Kaiser, sein Beinah-Schwiegersohn, nicht zugegen waren. Ich fragte mich oft, wie ich mich an Birgits Stelle verhalten hätte, aber ich wusste keine Antwort. Die Antwort kam unerwartet von Birgit selber, die nach gerade einem halben Jahr wieder in der Firma des Vaters auftauchte. Fast wie selbstverständlich nahm die sichtlich Gezeichnete wieder ihren früheren Platz im Büro ein. Auch diesmal dauerte es nicht lange, dass die gewöhnlich Gut-Informierten wieder herausgefunden hatten, was sich denn in Birgits Leben so dramatisch verändert hatte. Eine Rückkehr der Cheftochter hätte ich nie und nimmer erwartet, aber die hübsche junge Frau musste die überstürzte Beziehung mit dem anderen Mann bitter bereut haben…

Nach dem ersten Feuer der Leidenschaft war die große Liebe schnell der harten Realität gewichen. Birgits neuer Gefährte war so ganz anders als der langweilige und verlässliche Sebastian und daran scheiterte das junge Glück früh. Anscheinend hatte der Neue einen Hang zum Alkohol und bisweilen musste ihm auch die Hand ausgerutscht sein. Und mit Geld konnte er schon gar nicht umgehen… Im Zuge der Streitereien, die sich ergaben, hatte Birgits vermeintlich große Liebe rasch die Nase voll von den Vorwürfen, die sie ihm machte. Anscheinend hatte er Birgit sogar selber an die Luft gesetzt, ich hörte aber auch die Version, dass Birgit freiwillig und von sich aus nach Hause zurückgekehrt war. Ich konnte nie klären, was tatsächlich passiert war, aber es ging mich auch nichts an.

Kaum begreifen konnte ich allerdings, dass Sebastian in einer tränenreichen Versöhnung Birgit bat, wieder mit ihm zusammen zu ziehen. Ich selber, ich bin nun mal ein stolzer Mensch, hätte an Sebastians Stelle Birgit nicht einmal mehr eines Blickes gewürdigt. Aber vielleicht lag meine harte Haltung auch daran, dass mir Sebastian noch immer gefiel und ich ein wenig eifersüchtig auf Birgit war – in allen Ehren halt. Mit der hübschen und jüngeren Birgit hätte ich ohnedies nie konkurrieren können. Wie auch immer, es wurde in Folge relativ schnell geheiratet im Hause Gimpel-Kaiser und der Friede und die Beschaulichkeit kehrten nach dem kurzen Ausbruch wieder ein. Birgit muss begriffen haben, dass die große Liebe doch nicht notwendigerweise in einem neuen, temperamentvolleren Geliebten zu finden sein muss…

© Vivienne

Schreibe einen Kommentar