„Die Welle“ – Buchkritik

Wie konnten so viele Menschen an Hitler glauben, sich von ihm mitreißen lassen, so viel Böses tun oder dabei zusehen, ohne sich dessen bewusst zu sein, ohne das alles zu hinterfragen?
Das wirklich praktizierte Experiment eines Lehrers im Geschichtsunterricht auf einer High School in den USA Anfang der 80er-Jahre beantwortet diese Frage: Macht durch Disziplin! Macht durch Gemeinschaft! Macht durch Handeln!

Der beliebte Lehrer mit manchmal etwas ungewöhnlichen Unterrichtsmethoden gibt sich selbst nach und nach immer mehr als Führer, erwartet uneingeschränkten Gehorsam, und schafft es, die ‚Vorteile’ dieser Haltung in den Vordergrund zu rücken. Ja, es gibt Vorteile, auf die man nicht vergessen darf, denn ohne Vorteile würden wohl kaum so viele Personen überzeugt worden sein, weder von Hitler, noch bei diesem Schulversuch.

Alle sind auf einmal gleich, was besonders vorher Unbeliebte oder Schwache als positiv empfinden. Man ist nie allein, ist umgeben von Gleichgesinnten, fühlt sich als wichtiges Glied in einer Kette. Man erkennt, dass man mit gemeinsamen Zielen wirklich viel erreichen kann, es gibt keinen Neid, keinen Konkurrenzkampf, keine Alleingänge. Man hat ständig Aufgaben und Ziele vor sich. Aus diesen Vorteilen ergibt sich eine gewisse Euphorie und Harmonie – SOLANGE MAN DAZUGEHÖRT. Außerdem ein Gefühl von Kraft und Macht.

Es gelang wohl so einfach, weil man, besonders als Kind oder junger Erwachsener, am Anfang meist den Weg des geringsten Widerstandes wählt und ‚mit dem Strom schwimmt’, um keine Schwierigkeiten zu bekommen. Spürt man erst die Vorteile und das Glücksgefühl und die Kraft in der Gemeinschaft, ist man kaum noch in der Lage, die Nachteile wahrzunehmen: man verlernt, selbständig zu denken, zu hinterfragen, ist ablehnend gegen Außenseiter der Vereinigung gesinnt, und begibt sich völlig in die Gewalt eines Anführers, der damit lauter kleine willenlose Marionetten in die Hände bekommt, von denen er mit Freude die Erfüllung seiner größten und kränksten Wünsche, Träume und Phantasien erwarten darf.

Schwer vorzustellen, wenn man es nicht selbst erlebt hat, aber das Buch kommt recht nahe daran, den Leser in diese Lage zu versetzen, sowie die damalige Begeisterung für Hitler besser nachvollziehen zu können, zumal bestimmt einige von uns mit dem Verhalten ihrer Eltern oder Großeltern vor und während dem 2. Weltkrieg hadern.

Der Schulversuch entsprang der Disziplinlosigkeit und Gleichgültigkeit vieler Schüler, sowie deren Unfähigkeit, das Handeln der Menschen in der ‚Hitlerzeit’ zu verstehen. Es führte so weit, dass ‚die Welle’ schließlich ein Eigenleben entwickelte und dem Lehrer aus der Hand zu gleiten drohte: Nicht-Mitglieder werden bedroht und verletzt im Namen der Sicherheit für die Vereinigung.

Lediglich 1 Mädchen versucht am Ende, sich dagegen zu wehren, die anderen von der schlechten Entwicklung der ‚Welle’ zu überzeugen, hauptsächlich von der Mutter zum kritischen Nachdenken veranlasst. Ihr (Ex)Freund schließt sich ihr noch an, nachdem er wegen ihrem Widerstand handgreiflich gegen sie geworden war, was ihm abrupt die Augen öffnete. Natürlich haben die beiden keine Chance gegen die Mehrheit. Zu diesem Zeitpunkt rebellieren aber schon die ersten Eltern und Lehrer. Die eigene Frau sowie der Schuldirektor zwingen den Lehrer schließlich, seinen Versuch zu beenden, der ihn zugleich fasziniert wie geängstigt hat. Um das Ergebnis des Experimentes zu veranschaulichen, wählt er selbst das WIE beim Ende.

Es kommt zu einer Versammlung, bei der man sich angeblich mit weiteren gleichen Gruppierungen zusammentut und einen Führer auf nationaler Ebene per Satellitenschaltung reden hört. Doch statt dessen folgt die Einspielung einer Rede von Hitler und ein paar erklärende Worte des Lehrers, der mit diesem Versuch Verständnis für die damalige Zeit wecken und die Folgen von fehlendem gesunden Misstrauen aufzeigen wollte.

Obwohl die Idee des Lehrers meiner Meinung nach gut war – wenngleich nicht unumstritten – und die Entwicklung der Welle vom Autor recht gut verständlich beschrieben wurde, so stört mich dennoch einzig das abrupte Ende des Buches, das man sicher noch hätte ausbauen können, um damit mehr Tiefgang zu erreichen, etwa ein wörtlicher Auszug aus der Rede Hitlers. Einen Einblick in den weiteren Verlauf der folgenden Unterrichtsstunden, zumal man so ein Verhalten nicht von einen Tag auf den anderen ablegen kann und es viele Gefühle und Fragen aufzuarbeiten gab, habe ich außerdem vergebens gesucht. Statt dessen ist in der Neuauflage des Buches, das mir vorlag, am Ende ein Auszug aus einem Zeitungsinterview mit dem ungewöhnlichen Lehrer zu finden, um zu unterstreichen, dass jener Versuch wirklich stattgefunden hat.

Dieses Buch verliert jedenfalls nie an Aktualität, es erklärt, warum VERGESSEN nicht angesagt ist, wenn die heutige Generation sagt: ‚Was geht mich der 2. Weltkrieg an, das ist lange vorbei und hat mit mir nichts zu tun.’ Die Welt ist leider voll von Mitläufern. Es kam mir aber auch der Gedanke – was für die Fähigkeiten des Autors spricht, mich aber gleichzeitig ein wenig erschreckt – dass die Welt, so wie sie ist, längst nicht in Ordnung ist und ihr ein paar Züge der Welle gar nicht so schlecht täten – jedenfalls in den Händen eines ‚guten’ Führers.

Abschließen möchte ich mit einem Spruch aus einem Film über das Leben Hitlers:

FÜR DEN TRIUMPH DES BÖSEN REICHT ES, WENN DIE GUTEN NICHTS TUN

(C) Sarkastika

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