Die Verführung – Sielmann und der Kupplungszug

Sielmann blätterte im eBay-Katalog.
Nein, nicht so wie früher, als er noch die Motorrad-Zeitungs-Kleinanzeigen nach den für ihn passenden Ersatzteilen durchforstete. Am Bunte-Blätter-Stand im Anhalter Bahnhof gab es schon immer das beste Angebot weit und breit. Hier lagen auch schon mal internationale Fachzeitungen für all die Motor-Verrückten auf zwei Rädern herum. Die meist missgelaunten Kioskverkäufer, missgelaunt wohl nur dadurch, dass sie wieder mal einen der äußerst missliebigen „Schnorrer“ auf die eigentliche Aufgabe eines Bahnhofs-Zeitungs-Kiosk aufmerksam machen mussten, gehörten damals schon irgendwie zu Sielmanns Todfeinden. Sielmann hatte es aber über all die Jahre gelernt, gleichzeitig die Gazetten auf für ihn wichtiges zu durchzufächern und dabei noch gleichzeitig die Kioskbesatzungen streng im Auge zu behalten. „Beehren Sie uns doch bald wieder!“ hatte er meist zu hören bekommen, wenn er dann eines der Magazine wieder in den Ständer zurück steckte.
Nun, auf einmal, im Internet- und hierdurch nicht zuletzt eBay-Zeitalter, stellte sich für ihn sein Hobby als viel leichter und überaus effizienter heraus.

Diese Ergotherapeutin war`s ja, die er im Wartezimmer seines Zahnarztes getroffen hatte und die ihn wohl ob seines unter dem Arm getragenen Helmes sofort als Motorradfahrer erkannte, die ihn sofort auf diese alte Honda CB 750 K7 ansprach.
„Mein Freund fährt auch Motorrad, will seinen Hobel aber nun verkaufen, ne alte Honda. Mein Freund meint, ein echt seltenes Stück.“
„Ich fahr auch ne Honda,…“ war ihm herausgerutscht. Sielmann wunderte sich über sich selber. Bei Frauen, solchen hübschen noch dazu, blieb ihm sonst immer die Spucke weg. Mehr noch, ein Kloß im Halse stecken und diese, wie er dann auch noch erfuhr Ergotherapeutin, war mehr als nur ein hübsches Ding. Mittelblond, langes Haar zu einem kecken Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Enger Pulli, der ihre Weiblichkeit mehr als nur betonen konnte und dazu eine ungeheuer eng geschnittene Jeans, die dann auch noch in kniehohen Stiefeln endete. Die zwei kleinen Grübchen in ihren Wangen konnten dann auch nur noch als das i-Tüpfelchen auf dieser glänzenden Erscheinung gewertet werden.

Sielmann, mit seinen nun schon beinahe gut 50 Jahren Lebensweisheit und trotzdem null Ahnung was Frauen anging, stellte es sich vor, wie es wohl wäre, wenn…

Aber nein, sie hatte ja ausdrücklich von ihrem Freund gesprochen und außerdem…er hatte es ja nicht so richtig mit der Weiblichkeit.
Irgendwie hatte er schon immer Angst davor gehabt, eine Frau auch nur anzuschauen. Ansprechen? Nein, ging aber überhaupt nicht. Er traute sich selber beinahe alles zu. Doch, eine Frau so einfach anzusprechen?

Er hatte, um seinen Gitarren-Idolen näher zu kommen, beinahe jeden Tag auf seiner alten 62er Fender Stratocaster all deren Blues-Licks nachgespielt. Und nicht wenige von seinen alten Kumpels hielten ihn daher für ein echtes Talent in dieser Musik-Tradition.
Diese alte Elektro-Gitarre hatte er von seinem Onkel, dem Bruder der Mutter überlassen bekommen und auch den alten Fender „Twin-Reverb“- Verstärker.
Der Onkel hatte mal eine Zeitlang als Saison-Musiker auf den Nordseeinseln gearbeitet. Als der dann, von der Gicht geplagt, die Frührente beantragt hatte, konnte Sielmann noch soeben kurz entschlossen verhindern, dass Gitarre und Amp über eine Kleinanzeige zum Spottpreis verhökert wurden.
Seltsamerweise hatte sich Sielmann bis dahin gar nicht so richtig fürs Musikselbermachen interessiert. Doch irgendwo, tief in drinnen, mussten doch ganz zarte Blues-Wurzeln in ihm schlummern.
Jimmi Hendrix, der nach Sielmanns Überzeugung neben ihm zweite Ausnahmegitarrist auf Erden wars dann wohl doch, der in ihm diesen letztendlichen Impuls auslöste.
Den Impuls, sich mit des Onkels früherem Arbeitsgerät mal ordentlich auseinander zu setzen.
Denn Arbeit war`s ja, die Sielmann seit seiner Lehrzeit zum Autoschlosser sehr konsequent zu vermeiden wusste.
Eine Einstellung, die schon früh für Zoff in der Familie Sielmann führte.

Sielmann konnte dann zunächst zu `nem Kumpel ziehen. Der hatte einen kleinen An- und Verkaufladen für Gebraucht-Möbel und Orient-Teppiche und der Lagerraum im Hofanbau wurde somit zu Sielmanns erster fester Bleibe nach dem Auszug zuhause. Er hatte nun ein eigenes Dach über dem Kopf und daneben auch noch einen gut schallgedämpften Übungsraum.
Und Sielmann übte wirklich und übte nun tage- und nächtelang und die verehrten Gitarrengötter brachten ihm dann doch noch den Gitarren-Blues nahe.

Diese junge Ergotherapeutin schien einer Unterhaltung zwischen Zahnarzt-Patienten überaus aufgeschlossen zu sein.
„Mein Freund hat plötzlich die Enduro für sich entdeckt.“
Sielmann überlegte kurz, ob es für ihn überhaupt Sinn machte, den hingeworfenen Motorradhandschuh aufzunehmen. Aber, überlegte er nur kurz, sie hatte ja ihn angesprochen und nicht etwa er sie. Also sollte er es dann ja wohl auch als Chance ansehen, endlich mal Kontakt zur Weiblichkeit aufzunehmen.

„Ich fahr immer nur so Klassiker, hab zwar mal ne DR gehabt. Einen Eintopf mit Enduro-Rahmen, aber da hier ja auch nur so wenig Gelände zum Motorradfahren zur Verfügung steht, hab ich es schnell wieder aufgegeben.“
„Könnte was für Sie sein, ist auch noch angemeldet. Ich gebe Ihnen mal die Telefon-Nummer meines Freundes.“
Seltsam, dachte sich Sielmann, ich sitze hier inmitten zahnschmerzgeplagter Zeitgenossen in einem Wartzimmer herum und mir direkt gegenüber die wohl schönste Frau auf Erden und worüber reden wir? Über uraltes Eisen und das Fortkommen auf zwei Rädern. Warum nur? Und warum frage ich sie nicht einfach, ob sie noch was vorhat, nach der Wurzelbehandlung oder der Anprobe der neuen Jacket-Krone? Verflixte Schüchternheit! Aber, sie hat ja frühzeitig genug zu erkennen gegeben, dass sie wohl in festen Händen sei.
Aber mal sehen, vielleicht läuft über die alte Karre von ihrem Macker ja was.

Diese alte Kiste entpuppte sich dann tatsächlich als CB 750 von Honda. Der alte Klassiker-Motor aus den Typen 0 bis 6 der CB 750, nur im etwas modernisierten Rahmen der ausgehenden 70er Jahre. Der K7 halt! Die Typen 3 bis 5, der Teufel weiß warum, waren in Europa so gut wie nie zu kriegen. Honda hatte da wohl eine ganz eigene Philosophie entwickelt.
Bis auf die fehlende Auspuff-Anlage 4 in 4 und den fehlenden Seitendeckel rechts, beinahe komplett.
Als Auspuff, eine in den 80ern sehr übliche „Verbesserung“ des Sounds, eine 4 in 1. Schade, Sielmann bedauerte diesen Frevel beinahe, der in den 80ern absolut üblich war. Man schraubte die Originale meist nur ab, um sie durch solche Edelstahl-Auspuffanlagen zu ersetzen, die ja auch noch erheblich teurer aussahen und darüber auch noch reichlich mehr an Phon brachten. Sielmann hatte es im betreffenden Zeitraum ja gerade genauso gemacht. So wie beinahe alle Motorrad-Verrückten damals.

Nun, das Geschäft wurde gemacht! Sielmann hatte sich, schon immer auf günstige Gelegenheiten hoffend, eine für einen Hartz Vierer recht ordentliche Summe vom Munde abgespart. Wurden Klassiker der Motorrad-Historie sonst meistens für recht ordentliche Preise verhökert, konnte Sielmann sein Glück beinahe selbst nicht fassen.

Ja, Sielmann hatte es stets vermeiden können, für seinen Unterhalt selber zu sorgen. Seit der Lehrzeit war er nirgendwo mehr angestellt.
Nein, nicht Langeweile plagte ihn seither. Sielmann wusste, ganz im Gegenteil zu der ursprünglichen Auffassung seiner Eltern und auch seiner älteren Brüder, schon immer ein wenig „Plattmoos“ zu machen. Zuerst waren es gesuchte Schallplatten-Raritäten, die er auf diversen Flohmärkten erstand und über Fachzeitungen wieder an den Mann oder die Frau brachte. Mit einem Aufpreis natürlich.
Dann waren es alte Kofferradios, die von ihm sorgfältig gereinigt und durch Austausch von Verschleißteilen wieder funktionsfähig gemacht nun ebenfalls wieder Mehrerlös bedeuteten.

Dann, ein Kumpel hatte ihn darauf gebracht, fertigte er beinahe exakte Kopien seiner alten Stratocaster an. Leo Fender wäre zwar sehr beleidigt gewesen bei deren Anblick, aber es gab zum Glück genügend Zeitgenossen, die schon bereit waren für eine „gut gemachte“ Kopie ein hübsches Sümmchen hinzublättern. Und gut gemacht waren Sielmanns Kopien wirklich. Jedenfalls, wenn man nicht ganz so genau hinsah.
Die Bauteile für diese Relics gab es zuhauf und dann noch ein paar Abziehbilder? Auch dafür hatte Sielmann innert kürzester Zeit einige gute Quellen ausfindig gemacht.
Und so konnte er sich sein dann wirklich ausuferndes Hobby zulegen. Das Aufbrezeln von alten Motorrädern.

Den Autoführerschein hatte er nie gemacht. Aber, von einem Lehrlingskollege angestachelt, der schon älter war und damals eine alte 250er Maico sein eigen nannte, den für den Vorwärtsdrang auf 2 Rädern notwendigen „Einser“!
Nun saß er also jede freie Minute und „frei“ hatte er ja wirklich immer, in dem seiner Wohnung in dem Plattenbau im Parterre in Berlin-Marzahn direkt anschließenden gepflasterten Hof und schraubte und schraubte. Die einzigen Unterbrechungen, die er zuließ, waren die Stunden „beim Amt“, also dem Job-Center, wenn wieder mal „Stütze-Verlängerung“ angesagt war.

Der SPD, konkreter Bundeskanzler Gerhard Schröder war es zu verdanken, dass an Stelle der früheren Sozial-Amt-Kasse, die Arbeitsämter auch für solche wie Sielmann zuständig waren. Das ganze nannte sich dann Hartz Vier.
Jedes halbe Jahr musste dann ein neuer Antrag auf „Grundsicherung“ gestellt werden. 364 EUR wurden einem Alleinstehenden zugestanden. Hinzu kamen noch die Miet- und Heizungskosten, außerdem waren Krankenkasse und Fernsehgebühren frei. Alles in allem soweit „im grünen Bereich“, wie Sielmann nicht müde wurde im Kumpelkreis immer wieder zu betonen.
Sielmann war eigentlich schon immer ziemlich sparsam gewesen. Kneipenbesuche standen nicht auf seiner „to do“-Liste. Und da er mit Frauen wegen seiner Schüchternheit nichts am Hut hatte, also nicht auch noch für irgendjemanden zu sorgen hatte, kam er auch ganz gut klar. Er konnte mit Fug und Recht behaupten, es ginge ihm ganz gut so.
Den jeweiligen Fall-Managern vom Arbeitsamt, später also Job-Center, hatte er schon sehr früh klargemacht, dass Arbeitsvermittlung bei ihm keinerlei Sinn machte.
So war doch tatsächlich in der Frühzeit seiner Arbeitsverweigerung eine sehr nette Frau äußerst bemüht um sein berufliches Fortkommen gewesen. Was Sielmann dann tatsächlich ein wenig aus der Bahn warf. Er fand sich dann eines Tages in einem Rekrutierungsbüro eines der großen Stahlkonzerne noch aus Kaisers Zeiten ein. Seine Frage: „ob das denn immer noch der gleiche Waffen-Hersteller vom ollen Willhelm zwo“ sei, wurde dann natürlich nur mit Kopfschütteln und sofortigem Hausverbot durch einen der Gewaltigen dort beantwortet. Sielmann darauf, bewusst säuerlich grinsend: „Man wird ja mal fragen dürfen!“
Ein weiteres Mal führte die Frage nach einer Abgas-Abzugsanlage in einer Kfz-Werkstatt ebenso zu einer Ablehnung der Bewerbung durch die Betriebsleitung, wie später dann auch bei einer kommunalen Beschäftigungsgesellschaft für Langzeit-Arbeitslose, nach geeignetem Schuhwerk für Grünflächen-Jobber.
Den letztendlichen Ausschlag gab dann wohl Sielmanns Hinweis, sich im Arbeitsrecht sowie den Unfallverhütungsvorschriften sehr genau auszukennen.
Es war ihm also all die Jahre über immer sehr gut gelungen, sich einem geregelten Gelderwerb in der freien Wirtschaft zu entziehen.
Sielmann, so konnte man schon in den 80ern erkennen, hatte seinen Durchblicker-Lehrgang mit Erfolg und Auszeichnung bestanden.

Nun gut, einige Mal war er einfach der Aufforderung des Arbeitsamtes sich irgendwo vorzustellen, nicht nachgekommen. Hierauf erfolgte natürlich sofortige Sperrung des Arbeitslosengeldes, doch damals halt immer noch für Sozialfälle zuständig, sprang auf seinen Antrag hin das Städtische Sozialamt immer sofort ein. „Das System musste immer mit dem System bekämpfen!“, so seine schon damals höchst zutreffende Überzeugung.

Und nun hatte Sielmann diese Honda in der Mache. Diese Ergo-Therapeutin ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Ihr Freund, Typ in allen Ehren ergrauter Hippi mit schulterlangem, ebenfalls zum Pferdeschwanz gebundenem Haarschopf war einfach nur zu beneiden. Wusste der eigentlich, mit welch engelsgleichem Wesen er des Nächtens die Matratze teilte?

Sielmann stellte es sich vor. Er würde auf der CB sitzen. Die Landstraße würde unter den blank gewienerten Speichenfelgen hindurchhuschen und der Engel auf dem Rücksitz wäre hautnahe an ihn geschmiegt. Ihre Arme würden seine Taille umfassen und beide würden dem Sonnenuntergang entgegen brausen. Doch, und Sielmann seufzte bei dem unausweichlichen Gedanken, so würde es niemals kommen können. Irgendetwas muss wohl damals in seiner Entwicklung zum Manne einen leichten Knacks bekommen haben. Scheiß-Schüchternheit! Und außerdem, der Engel befand sich doch schon längst in vermutlich sehr starken Armen und er selber verfügte lediglich über einen leichten Bauchansatz und eine schon sehr hohe Stirne.

Und nun musste, koste was es wolle, dieser verflixte Seitendeckel und diese originale 4 in 4 Anlage her.
(Soweit Sielmann und der Kupplungszug, wird fortgesetzt. Personen und Geschehnisse sind rein fiktiv. Ähnlichkeiten somit wirklich nur zufällig!)

A.S. Juni 2012

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