Fassade eines Feierabend-Lächelns – Literaturwettbewerb

von Anja Ollmert

Montagmorgen. Maria erwachte mit guten Gedanken. Die Sonne schien zum Fenster herein und ein Strahl kitzelte leicht ihre Nasenspitze. Sie spürte, wie ein Niesen in ihr aufstieg, das sich sogleich in einer winzigen Explosion entlud. Leicht wandte sie sich zur Seite und warf einen Blick auf Rolf, der wie immer bis zum ersten Weckerrasseln schlief. Seine Gelassenheit, die er am Tag zur Schau stellte, übertrug sich auch auf seinen Schlaf. Nichts konnte ihn jemals aus der Ruhe bringen. Sie sah ihn noch eine Weile aufmerksam an und langsam verloren ihre Gedanken das Positive, das sie eben noch erfüllt hatte. Die Wirklichkeit war schwieriger. Seit nunmehr 20 Jahren waren Rolf und Maria ein Paar – 24 Jahre, wenn man die Zeit des Miteinandergehens und der Verlobung dazuzählte. Sie hatte ihn immer für einen Glücksgriff in ihrem Leben gehalten. Wenn es einmal nicht so rosig war, erklärte ihr gesamtes Umfeld Maria deutlich, dass sie mit ihrer Wahl hundertprozentig zufrieden sein müsse.

Nun ja, man hatte zwei Kinder in die Welt gesetzt, lebte mit den Schwiegereltern in gutem Einvernehmen in einem Haus und verbrachte Tag für Tag mit immer gleichen Arbeiten, Vergnügungen und Verpflichtungen. Doch seit einigen Monaten fragte sich Maria, ob das wirklich alles war, was sie vom Leben erwartete. Rolf liebte sie und auch sie wusste, dass er zu ihrem Leben gehörte. Und trotzdem – sie hatte im letzten Januar zum ersten Mal diesen anderen Mann getroffen und seitdem kreiste alles in ihr um die seltsamsten Überlegungen.

Der rasselnde Wecker riss sie aus ihren Gedanken und sie schaut in Rolfs Gesicht, der aus seiner Traumwelt erwachte. Sofort sprang er fröhlich aus dem Bett und rief: „Los, du Schlaf-mütze! Es wird allerhöchste Zeit. Ich weck schon mal die Kinder“, und er verschwand im Flur, um Jenny und Felix mit dem gleichen morgendlichen Enthusiasmus zu wecken. Als Antwort erhielt er ein genervtes Stöhnen aus beiden Zimmern. Die pubertären Erscheinungen hielten sich bei beiden Kindern in Grenzen – wieder ein Grund mehr, sich glücklich zu schätzen. Was wohl aus ihr geworden wäre, wenn die beiden sich nicht schon so früh auf den Weg in diese Welt gemacht hätten. Trotzdem – sie liebte auch ihre Kinder sehr. Maria stand auf und schlüpfte in ihre ausgetretenen Pantoffeln und kam sich mit einem Mal genauso ausgelatscht vor. Ein Blick in den Spiegel bestätigte ihr, dass der Glanz ihrer Augen einer tiefen Resignation gewichen war. Sie ignorierte den Anblick, der sich ihr bot und wandte sich entschlossen ab. Für den Moment war es ja egal, wie sie aussah – Rolf liebte sie trotzdem.

Als sie aus der Dusche kam und schnell in ihre Klamotten schlüpfte, waren die anderen schon unten am Frühstückstisch. Ihre Schwiegermutter ließ es sich nicht nehmen, morgens das Frühstück für alle zu machen. Lustig schwatzend saßen die anderen da und keiner schien Marias negative Stimmung zu spüren. „Guten Morgen, mein Kind“, säuselte die Schwieger-mutter. „Hast du gut geschlafen?“ Wie Maria diese Fragerei auf die Nerven ging. Aber bloß nichts anmerken lassen.

Ihre Gedanken kreisten erneut um den anderen. Dirk hieß er und er war zu allem Überfluss auch noch einige Jahre jünger als Maria. Deshalb ertappte sie sich seit Wochen dabei, in ihrem Umfeld Paare zu suchen, bei denen der Mann jünger war als die Frau. Während die Schwiegermutter um sie herum mit dem Geschirr klapperte und Rolf ihr einen sanften Abschiedskuss auf die Wange drückte, sah sie Dirk vor sich. Er war vom Aussehen her kein besonders auffallender Mann und oft fragte sie sich, wie er so im Sturm ihr Herz hatte erobern können. Es musst an seinem Lächeln liegen, oder an dem festen Händedruck, wenn er ihr einen „Guten Tag“ wünschte. Eigentlich war auch er immer gut gelaunt und nichts unterschied ihn wesentlich von Rolf, abgesehen vom Alter vielleicht. Sie nahm ihre Tasse und stellt sie in die Spülmaschine. Es wurde Zeit, sich zum Einkaufen fertig zu machen. Das Mittagessen für den 6-Personen Haushalt lag nämlich in ihrem Aufgabenbereich. Gerne hätte sie mit der Schwiegermutter für einige Tage getauscht. Schließlich war es nicht so einfach, jeden Tag ein abwechslungsreiches Essen auf den Tisch zu bringen, das jedermann zufrieden stellte. Noch einmal ging Maria ins Bad um die Spuren der gefühlten Resignation unter einer sanften Make-up Schicht verschwinden zu lassen. Schließlich wollte sie beim Einkaufen einen guten Eindruck hinterlassen. Sie tagträumte vor sich hin, während sie sich den Auto-schlüssel und das Portemonnaie schnappte und einen Gruß in die Küche rufend die Tür hinter sich zuzog. Draußen atmete Maria tief die Luft ein, die von der Sonne erfüllt zu sein schien. Jetzt im Park Hand in Hand mit Dirk spazieren gehen! Auf einer Bank sitzen und sich unsinnige Worte ins Ohr flüstern. Sich verliebt fühlen und Küsse wechselnd auf den Wegen schlendern. Das schien ihr so anders zu sein, als der Alltag, der sie täglich ausbremste. Alltag mit Dirk –  das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Manchmal hatte sie große Angst, in einem ihrer vielen Träume, die Dirk ganz ausfüllte, laut seinen Namen zu sagen. Wie gut, dass Rolf so einen tiefen Schlaf hatte. Und er vertraute ihr ganz. Das war das eigentliche Problem. Nie war er eifersüchtig. Er war sich ihrer so unverschämt sicher. Vielleicht suchte sie deshalb diese Herausforderung. Aber an welche Herausforderung dachte sie hier eigentlich? Maria lenkte das Auto auf den Parkplatz des Supermarktes. Sie hatte Glück und es tat sich direkt vor ihrem Wagen eine Lücke auf. Schnell nahm sie den Korb und das Geld vom Sitz, atmete tief durch und betrat den Supermarkt. Bereits im Eingangsbereich kam ihr Dirk entgegen. Das offene, sympathische Lächeln überzog sein Gesicht. Er streckte ihr die Hand entgegen. “Guten Morgen, Frau Aller! Ist das nicht ein ausgesprochen schöner Tag heute?“, fragte er und hielt ihre Hand einen Augenblick länger als nötig in der seinen. Ein warmer Schauer durchrieselte Maria, als sie in die Augen des Filialleiters schaute. „Ja, Herr Träger, viel zu schön, um im Supermarkt zu stehen. Viel schöner wäre ein Spaziergang!“, antwortete sie kokett und blinzelte ihm zu. Wie immer schien auch er den besonderen Zauber zwischen ihnen zu spüren, denn er begleitete sie noch einige Schritte durch den Markt, bevor er sie mit einigem Bedauern an der Fleischtheke zurückließ. „Leider habe ich zu tun“, zuckte er mit den Schultern und verschwand aus Marias Blickfeld. Ihr schien es, als habe er sich gewaltsam von ihr losreißen müssen. Sie stand vor dem Tresen und vergaß, was sie kaufen wollte. „Bitteschön, Sie wünschen?“, fragte die Fleischverkäuferin etwas lauter als gewöhnlich. Maria zuckte zusammen. „Kassler, 5 Scheiben und Suppenfleisch aus der Rippe“, hauchte sie und musste sich räuspern, weil ihre Stimme noch in der Szenerie von eben gefangen schien. Sie erledigte ihre Einkäufe langsamer als nötig, um Dirk vielleicht noch ein zweites Mals zu begegnen. Aber diese Chance bleib ihr für heute versagt. So war es auch nicht nötig, den Filialleiter zu beobachten, ob er anderen Kundinnen mit der gleichen Nonchalance begegnete. Sie konnte sich weiter einbilden, dass sie etwas besonderes für ihn war. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Ihrer Schwiegermutter würde sie gleich erzählen, wie überfüllt der Supermarkt wieder einmal war.

Den Rückweg erledigte Maria immer besonders schnell, als müsse sie dann nicht solange auf den nächsten Tag und die wiederkehrende Gelegenheit warten, Dirk zu sehen. Und trotzdem zog sich der Tag wie ein Gummiband in die Länge. Und als Rolf nach Hause kam und nach ihren Erlebnissen fragte, war sie zum wiederholten Male versucht, ihm von ihrer Verliebtheit und dem Filialleiter zu erzählen – schließlich hatte er ja gefragt, was es Neues gebe. Aber wie immer zuckte sie nur mit den Schultern und antwortete: „Das Übliche. Und bei dir?“, worauf ein Schwall von Informationen aus dem Berufsleben ihres Mannes folgte, den sie nicht bis zum Ende bewusst wahrnahm. Auf ihrem Gesicht lag dieses gedankenverlorene Feierabend-Lächeln.

Und in einem dieser immer wiederkehrenden Augenblicke wusste Maria: Eines Tages würde sie es herausschreien, weil sie es nicht mehr aushielt. Und dann würde sie alles damit zer-stören, was sie besaß. Die Liebe und Geborgenheit ihrer Familie, ihre Freunde und alle sozia-len Kontakte, die sie gemeinsam pflegten. Niemand würde in einem solchen Fall Verständnis für sie haben. Also verbarg sie sich hinter einer Fassade nichtssagenden Lächelns. Schließlich hatte sie Dirk noch nicht einmal geküsst. Doch das würde ihr für lange Zeit ihr sehnlichster Wunsch bleiben.

 

 

 

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