Heute – Vor zwanzig Jahren
Ende September.
Regen nieselt wie Perlenstaub durch die Altstadt.
Kopfsteinstraßen dampfen im scheu gewordenen Sonnenlicht.
Heike kommt auf Rollschuhen den Gehweg entlang. Ihr langes,
nasses Haar fliegt im Wind. Sie träumt vor sich hin; summt
selbstvergessen und lächelt endlos, als sei sie verliebt.
Von der anderen Straßenseite her ruft Tim ihren Namen. Er
winkt und sie wirft ihm einen Kussmund zu. Tim ist ihr erster
Freund. Die ganz große Liebe.
Er läuft ihr nach, um sich den Kuss in echt zu holen; rennt
quer über die Straße. Gleich hat er sie…Zunächst ihr schüch- tern verstohlenes Lächeln.
Schließlich lacht sie laut; saust ihm davon; wechselt jäh die Straßenseite…Sie lacht immer noch…lacht und lacht…
Plötzlich endet das Lachen abrupt…es kracht an der Straßen- ecke…Tim stockt der Atem…Er sieht Heike, merkwürdig ver- krümmt, mitten auf dem Kopfsteinpflaster liegen; ihr starrer Blick zum Himmel gerichtet. Der eine Rollschuh surrt direkt
in seine Richtung; stoppt genau vor seinem Fuß.
Endpunkt. Bis hierhin und nicht weiter….
Stimmen jagen umher. Leute schreien. Der Fahrer des Wagens:
fassungslos. Auch jene, die ihn verfluchen: fassungslos.
Ein Krankenwagen.
Dann Kopfschütteln.
Nichts mehr zu machen, sagt jemand.
Polizeisirenen. Der Autofahrer muß vor der tobenden Men-
schenmenge geschützt werden – wird weggebracht.
Heike bringen sie ganz woandershin.
Tim steht immer noch da; will endlich weinen und nie mehr
von dort weggehen.
Der eine Rollschuh…Er bückt sich danach. Seine Hände zittern.
Der ganze Leib zittert. Seitwärts, an der Schnalle des Roll- schuhs, seine Handschrift, mit Füller geschrieben.
Für Heike
Irgendwann später nimmt irgendjemand Tim in den Arm.
> Der war viel zu schnell! Das wird der Kerl büßen…! <
Kein Trost.
Garkeiner.
Erst weit nach Mitternacht taumelt Tim nach Hause. Das blas- se Gesicht im Fenster verliert sich in tiefstem Dunkel.
Kaum achtzehn, zog er weg. Kurz vorher sagte er: ich hasse die Straße, die Stadt, alles…!
Einst liebte er sie – Heike, seine Freunde, die Straße, die unbe- schwerte Zeit. Doch jetzt flieht er…winkt stumm geworden von fern, mit Tränen in den Augen. Adieu Tim, lieber Freund.
Heute
Klassentreffen bei Uli. Eigentlich nichts Besonderes. Elf, zwölf Leute aus der alten Clique, die sich selbst feiern.
Abends klingelt es an Ulis´ Tür.
Sie öffnet – jauchzt los. Da steht er – Tim – in zerschlissenen Klamotten, unrasiert; völlig durchnässt. Uli umarmt ihn. Wir auch. Er setzt sich zu uns; versucht ein Lächeln; isst innerhalb von Minuten sämtliche Frikadellen weg; trinkt Starkbier; be- ginnt etwa nach der fünften Flasche zu erzählen – langsam, als wolle er lieber garnichts sagen…erzählt, daß er Familie hat. Und zwei Kinder.
Wieder der Versuch eines Lächelns.
> Alles prima, < fügt er schnell an, ehe er Knall auf Fall schwei- gend in sein Schneckenhaus zurückkriecht.
Er bleibt nicht lange. Nach zehn ist er plötzlich verschwunden. Ich suche ihn; kann mir schon denken, wo er ist und bleibe auf Distanz.
Tim schleicht auf dem Friedhof umher; findet aber nicht das gesuchte Grab, weil es inzwischen eingeebnet wurde. Weg – ihr Grab ist einfach weg. > Heike…,< höre ich ihn leise sagen. Nur dieses eine Wort.
Es zerfetzt mich!
Später lehnt er an der kleinen Brücke, die in den Ort führt. Dort trafen sie sich immer.
Er steckt sich eine an; starrt vor sich hin. Ich will aus dem Schatten einer krummen Linde treten; will mich gerade zu ihm setzen. In dem Moment höre ich ihn nuscheln: Alles prima, na klar…Und dann sein lautes Lachen, das grauenvoll klingt. Ich verschwinde. Und er steckt sich die nächste Kippe an.
Heute morgen, beim gemeinsamen Frühstück – ohne Tim – meinte Uli, sie würde das Gefühl nicht loswerden, er hätte in einer Tour gelogen, gestern. > Familie. Kinder. Glaub ich ihm
einfach nicht. < Die dicke Ulla, neben ihr, findet das lustig und kichert amü- siert. Holger, der Grundschullehrer, zwei Stühle weiter, schmiert sich fingerdick Leberwurst auf´s Brötchen, schließt die übernächtigten Augen; schmatzt ausgiebig; hört garnicht zu. Ihm gegenüber fletzt sich Walter, der etwas überkandidelte Chemiker in einem renommierten Forschungslabor. Der stimmt doch tatsächlich in Ullas´ dämliches Gekicher ein. Fügt noch an, daß Tim einen wie auch immer gearteten, wirren und ver- wahrlosten Eindruck machte.
> Na und. Wenn schon!, < erwidere ich irgendwie geläutert und ziemlich gereizt. > Schön, daß Ihr wenigstens alle beieinander
habt und auf der sicheren Seite seid! <
Jetzt wiederum hab ich das lichterloh brennende Gefühl, hier schnellstens raus zu müssen!
Draußen, auf der Straße, wird ebenso schnell deutlich, daß ich gerade elf, zwölf Freunde verprellt habe. Und der eine, der mir
bleibt, ist überall und nirgendwo. Vielleicht sollte ich nach ihm
suchen. Oder besser nicht…?
Doch, ich werde es tun.
Atme ein paarmal tief ein und aus.
Die feuchte Morgenluft klart auf. Es riecht nach Fisch. Nach
Hafen. Nach Leben. Nie war ich dem vertrauten Geruch näher,
als jetzt. Und elf, zwölf Leuten aus dieser Stadt nie ferner…
Na und. Drauf gepfiffen.Vorwärts – nicht zurück.
Das Lächeln zwischen meinen Lippen macht sich.
(c) Ralph Bruse
Super geschrieben, wahnsinnig lebensnah. Ach, möge es Tim doch gelungen sein sich wieder zu fangen. Er ist es wert. Und er wird seine große Liebe ganz sicher wiedersehen, auf der anderen Seite der Zeit, irgendwann …