Es ist einer jener Tage im frühlingshaften März, von denen man sich wünscht, sie mögen andauern, in diesem Zustand der heiteren Gelassenheit, so würzig die Luft, so schwerelos die menschliche Seele, so eins kann sie sein mit der Natur, so ausgeglichen und glücklich darf man sich fühlen. Da sitzt er nun, ein in die Jahre gekommener grauhaariger Mann, auf der Terrasse am kleinen schwedischen Holzhäuschen, über ihm der unendlich kobaltblaue Himmel. Weiße Schwäne ziehen in langer Kette mit gleichmäßigem Flügelschlag zu den stillen Seen in den weiten nordischen Wäldern. Noch sind die Baumäste kahl, doch dicht am Haus haben sich bereits Schneeglöckchen und Krokusse eingefunden, verpackt in einem Erdboden, der des Nachts noch in Eiseskälte erstarren wird. In den Niederungen liegen die Sümpfe noch unter brüchigem Eis. Irgendwo bellt ein Hund, eine Kreissäge kreischt. Der Träumer in ihm ist nicht totzukriegen.
Plötzlich ein Beben, dann ein Grollen, ein Donner, der über die Wälder kommt. Das Eis des Orrefors-Sees bricht auf mit lautem Getöse, gleich starken Explosionen. Diese Geräusche – da sind sie wieder, die Bilder von einst, sie drängen sich mitunter hinter seine Stirn: Er jagt als Ausbilder junge Männer über das Übungsfeld. Jahre danach greift er zum Kugelschreiber und schreibt über jene, wie sie sich plagen, wie sie das Notwendige meistern lernen. Ja, er hat als Offizier und Militärjournalist in der Nationalen Volksarmee zweiunddreißg Jahre mitgewirkt an einer Alternative zum Krieg, an einem Entwurf für ein großartiges Gesellschaftsgemälde. Darauf ist der einstige Oberstleutnant stolz. Nicht aber darauf, daß man im kleinen Land mit der Zeit vieles vermasselt hatte. Eine ganze geschichtliche Periode, ein Startversuch in ein menschenwürdigeres Dasein ist durch Unvermögen abgestürzt. Auf absehbare Zeit unwiderruflich. Verspielte Chancen! Und was dann kam …
Nun aber aalt er sich in der Vormittagsstunde auf der Sonnenbank, freut sich darauf, mit Cleo, seiner Frau, auch heute wieder kilometerweit zu wandern, hin und wieder zu schreiben an seinen Tagebuchnotizen oder zu malen. An wärmeren Tagen wird er seine Staffelei in den Garten stellen, Farben und Pinsel bereit legen. Ja, er hat wieder Lust, seinem späten Hobby nachzugehen. Ihm schwebt ein Ölgemälde vor, mit roten Rosen, Tulpen, Dahlien, Gladiolen, Kapuzinerkresse. Er sieht sie schon vor sich, die sommerlichen Farbtupfer im Garten, und mittendrin das schwedische Holzhaus. Ja, das will er malen …
Das kleine Schwedenhaus
Es ist bei weitem kein repräsentatives Traumhaus, in dem Cleo und Henry seit 1996 leben, eher ein bescheidenes, aber sehr schmuckes kleines Holzhäusel mit vier Zimmern. Ausreichend für sie, ihre tollen Kinder und Enkel, die, so oft es geht, gern zu Besuch kommen. Das Grundstück umfaßt einen 900 Quadratmeter großen Garten, bewachsen mit riesigen Haselnußhecken, drei imposanten Wacholdern und einer gewaltigen, etwas altersschwachen Birke. Das Haus hat – ganz schwedentypisch – zwei Eingänge, um in strengen Wintern bei Schneeverwehungen zwei Notausgänge zu haben. Im Wohnzimmer steht ein antiker weißer Porzellankachelofen, der bis zur Decke reicht. Dieser ist auch als Kamin nutzbar. Geheizt wird nur mit Holz, das es ja in Schweden zur Genüge gibt. Ein Durchgang führt zum Eßzimmer. Vom runden Tisch aus hat man nach allen Seiten einen herrlichen Blick in den am Grundstück angrenzenden Wald. Steigt man die Holztreppe hinauf, findet man zwei Zimmer mit schrägen Wänden, das Schlafzimmer in Hellblau mit weißen antiken schwedischen Möbeln, das Gästezimmer ganz in Rosé. Ein Schmuckstück auch das voll geflieste Bad mit Holzdecke und romantischen Badraummöbeln im gleichen Dekor. Außergewöhnlich schön ist die Herbstzeit. Dann liegt oft ein wenig Schwermut über dem stillen Ort Gadderos (im Glasreich Smaland gelegen) mit seinen roten, gelben oder braun-weißen Holzhäusern. Am frühen Nachmittag kriecht langsam aus den Wäldern die Dunkelheit hervor und hinter den Fenstern leuchten die Schwibbögen.
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In der Stille, in die sie sich gerettet haben, ist Langeweile ein Fremdwort. Henrys Geburtstag zum Beispiel. Auf dem Vertiko im Wohnzimmer lachen ihn einige mit Sorgfalt ausgesuchte Dinge an. Auch eine „Rügenwalder“ Wurst, die er so gerne ißt und die es in Schweden nicht gibt. Cleo lacht ihn an, holt wenig später aus irgendeiner Ecke ihres erstaunlichen Gedächtnisses Verse aus Goethes Faust Teil II hervor, tanzt nach einer CD den Bolero (Ravel). Sie sprüht vor Energie: Er sieht ihre Augen, schön wie eh und je, ihr gestenreiches Artikulieren, das Temperament, da kommt was rüber, da geht die Post ab. Er kann seinen Blick nicht von ihr lassen. Sie: „Was guckst du mich so an?“ Da fällt ihm ein Vergleich ein: „Du hast eine Ausstrahlung auf mich – stärker als der Sonnenwind!“ Ehrlich, er weiß nicht, wie ein Sonnenwind auf ihn wirkt, aber Cleo lächelt. Das gefällt ihr, sagt sie. Dann spielt sie „Lucia“ auf der Orgel, schimpft ihn Gewalttäter, weil er zu kräftig mit der Klappe eine Fliege tötet. Auch singt sie im schwedischen „Klamottenwald“ (Steine über Steine) Volkslieder, die sie schon mit vier Jahren im Luftschutzkeller sang aus Angst vor den Bomben.
Cleo – mit ihr ist jeder Tag ein Gewinn. Eine Frau mit Format: Schönheit, innere und äußere, gepaart mit Klugheit, ja, Scharfsinn, einem Urteilsvermögen in allen Lebenslagen, das Hellseherei vermuten läßt, also etwas sehen können, ohne suchen zu müssen. Dazu ein Rechtsgefühl und viel einfühlsame Menschlichkeit. Auch eine Selbstlosigkeit, die an Selbstaufopferung grenzt. Für die anderen da sein, ohne jemals nach Gegenleistungen zu fragen, das grenzt schon an ein Wunder. Cleo, Cleopatra – so wurde sie in ihrer Jugend von Gleichaltrigen genannt. Dabei waren und sind ihr Machtgier, Egoismus, übertriebener Ehrgeiz, Neid oder gar „Statusdenken“ ein Leben lang Fremdwörter geblieben. Und – sie läßt sich niemals gängeln, was sie zu denken und zu tun hat. Von wegen im politischen Gleichschritt mit ihrem Mann marschieren? So manche Versuche von durchaus klugen Leuten scheiterten, sie parteilich zu binden. Fehlanzeige. Sie wollte sich von keinem Statut etwas vorschreiben lassen. Sie ist halt ein oft rätselhaftes Phänomen. Sie hätte einen Prominenten an ihrer Seite verdient … Nun aber hat sie den Henry. Ein lebenslanges Rätsel: Warum ihn? Hat er sie verdient? Diese Frage geht ihm manchmal durch den Kopf. Wie wurde er ihr gerecht in ihrem über vierzigjährigen Zusammensein? Hat sie ihn nur geduldet, etwa der Kinder wegen? Nein. Auch die wären für sie kein Bindungsgrund geblieben, wäre da nicht mehr, viel mehr! Es ist ihm, als hätte sich sein Lebensweg schon in jungen Jahren nur auf einen Punkt hin bewegt: Nämlich SIE zu finden und mit IHR zu gehen, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Aber, aber – sie ist im Sternbild Widder geboren, er ist Schütze! Auch deshalb geht das gut, obwohl keiner von beiden abergläubisch ist. Das Leben hat es bewiesen.
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Alter Mann und rote Rose
Wieder bei Arne, dem „Baron“. Diesmal privat. Das schwedische Ehepaar Herta und Sony sowie Cleo und ich sind eingeladen. Wir sitzen im Eßzimmer mit den schweren Eichenmöbeln. So ist Arne: Vornehme Bewegungen, selbst beim Auftragen der selbst gekochten Speisen. Dieser Mann beherrscht es, allein ein auserlesenes Menü zuzubereiten. Bäckt selbst Kuchen und Torten, hält die große Villa in Schuß, überall viele Blumen und Pflanzen, teure Behaglichkeit. Wir sind jedesmal von Neuem beeindruckt. Wertvoll die Gespräche mit ihm, er ist weise, dabei zurückhaltend, auflachend, wenn ein Spaß in der Luft liegt. Nach dem Essen bittet er zur Kaffeerunde an eine antike Sitzgruppe. Über uns an der Wand ein riesiges altes Gemälde im breiten Goldrahmen. Cleo schaut es sich besonders aufmerksam an. Woher, wer gemalt? „Baron“ erzählt, ein Vorfahre habe mit fünf Jahren mit seiner Tante Gemüse verkauft. Von ihm verdientes Geld steckte der Fünfjährige in eine abgeschlossene Kassette. Als er 18 war, fand er darinnen 60.000 Kronen. Da erfüllte er sich einen lang ersehnten Wunsch – er kaufte sich dieses Gemälde für 40. 000 Kronen. Und nun sei es im Familienbesitz und sollte an und für sich alle zwei Jahre innerhalb der Familie (unser Gastgeber hat fünf Kinder) in den Wohnzimmern die Runde machen. Da die anderen Wohnungen aber nicht so große Wände haben, könne er sich nun ganz alleine vierzehn Jahre lang an diesem Ölgemälde erfreuen. Doch die eigentliche Bewunderung über die Werte in „Barons“ Haus gehen mit einem Mal in eine andere Richtung, als Sony auf eine einsame rote Rose an einem Fenster zeigt, neben der ein Foto hinter Glas steht, das eine Frau abbildet. Cleo geht hin, betrachtet Blume und Foto interessiert. Cleo hinterfragt und wir erfahren: Diese Schöne war seine Frau. Jeden Donnerstag kaufe er im Blumengeschäft in der 17 Kilometer entfernten Kreisstadt eine rote Rose für die vor 15 Jahren Verstorbene. Zu jeder Jahreszeit. Wir sind baff. Welch eine Geste. Er muß mit ihr sehr glücklich gewesen sein. Klar, es geht nicht um die Ausgaben jahrelang – es geht um die Haltung, die innere. Später kann ich nicht so schnell einschlafen. Da geht mir so manches durch den Kopf. Auch wir sind in der gleichen Lage. Alt und liebevoll zueinander. Ein Leben lang. Das wünschte man jedem. Bevor ich einschlafe, fällt mir ein Titel ein: „Der Alte Mann und die rote Rose.“