von Vivienne – Juni 2004
Der vergessene Patient
Dieser Tage machte der Fund einer skelettierten Leiche auf dem Dachboden des Krankenhauses Lainz Schlagzeilen. Ein Patient, seit etwa drei Monaten abgängig, hatte sich auf dem Dachboden verstecken können, weil der anscheinend wegen Reparaturen für kurze nicht versperrt gewesen war. Der ältere Mann saß somit in der Falle, obwohl er im Spital in allen Abteilungen gesucht worden war. Nur der Dachboden war in alle Überlegungen nicht einbezogen worden, weshalb der Patient hilflos verhungerte und verdurstete. Vermutlich zumindest, die genaue Todesursache muss erst in einer Obduktion geklärt werden.
Schlimm, wenn in unserer modernen Gesellschaft ein kranker Mensch so ums Leben kommt, dort, wo er vermeintlich sicher aufgehoben und in guten Händen scheint. Eine Geschichte, auf die ich besonderes sensibel reagiert habe, weil mein Vater seit einer Woche im Linzer AKH liegt, eingeliefert mit Verdacht auf Schlaganfall. Natürlich stellt sich die Frage, ob in Linz ein derartiger Vorfall möglich wäre. Ich habe mich damit letzte Woche auseinandergesetzt, als ich fast täglich meinen Vater besuchte, und musste feststellen, dass man ja schon als mündiger Besucher fast auf eine Expedition geschickt wird im großen Gebäudekomplex des AKH.
Da sich der Aufenthalt meines Vaters verlängerte, besorgte ich ihm eine aufgeladene Chipkarte, die es ihm ermöglicht, mit dem Notfallgerät im Zimmer auch zu telefonieren. Man stelle sich folgendes Szenario vor: ich befinde mich im 2. Stock des Gebäude D, wo sich die Neurologie befindet, werde zurück in den Bau A, hinunter in die Notaufnahme geschickt, sozusagen mit der Kirche ums Kreuz, wo ich mit knapper Mühe und Not (mein Vater sollte sie eigentlich selber holen!) diese Karte bekomme, im Erdgeschoß auflade und den ganzen Weg retour wieder in die Neurologie auf mich nehme.
Dazu sei gesagt, dass ich 38 Jahre alt bin und gut zu Fuß unterwegs, so weit ich weiß, gesund und belastbar, und ich habe für diesen Weg gute 20 Minuten benötigt. Mein Vater hingegen ist 74 Jahre alt, schlecht zu Fuß, hör- und sehbehindert und unerfahren mit elektronischen Medien. Der Weg hätte ihn teilweise vor eine unlösbare Aufgabe gestellt, vor allem auch dort, wo es um die Bedienung des Aufladeautomaten geht. Im Grunde kann man nur sagen, dass diese Gebarung mehr als nur realitätsfern ist. Sie trägt damit genau jenem Jugendwahn Rechnung, der allerorts propagiert wird und entmündigt ältere Menschen, die obwohl geistig rege, abhängig werden.
Ich kann Ihnen nur sagen, mir wäre das nicht Recht, und es ist sicher nicht einzusehen, warum es etwa diese Karten zum Telefonieren nicht in jeder Abteilung gibt. Aber zurück zum Thema: mir gefällt die Ausgangssituation in den Krankenhäusern nach solchen Erfahrungen absolut nicht. Man bekommt das Gefühl, als wäre ein älterer Mensch weniger Wert und dass weniger Sorge getragen wird, ob auch wirklich alle Leute gut untergebracht sind. Mir ist schon klar, dass ein Patient, der möglicherweise an Verwirrungszuständen oder Demenz leidet, schwer zu hüten ist, weil man ihm keinen Wachmann beistellen kann. Andererseits sollte klar sein, dass wenn ein älterer Patient sich etwas besorgen möchte, er im riesigen Gebäudekomplex schnell verloren ist, wenn es ihm auch noch an Orientierung fehlt.
Es fehlt zudem an allen Ecken und Enden an Personal. Und die Bürokratie ist in großen Spitälern aufgeblasen wie ein Wasserkopf. Aber würden Sie verstehen, wenn ein lieber Angehöriger von Ihnen in einem Krankenhaus einfach so verschwindet oder vor schwierigen Problemen steht, wenn er etwas ähnlich harmloses wie eine Telefonkarte besorgen möchte oder in der in einem ganz anderen Gebäudekomplex untergebrachten Kantine eine Kleinigkeit besorgen möchte? Natürlich bin ich jetzt sensibilisiert in dem Bereich, weil man Vater momentan Spitalspatient ist, aber ich selber, im vorgerückten Alter, würde mir wünschen, so lange wie möglich selbständig zu sein.
Wenn man da zusätzlich Knüppel in den Weg geworfen bekommt und für diverse kleine Dienste die Verwandtschaft bei Besuchen auf eine Weltreise schicken muss, schmälert das den eigenen Selbstwert. Ich weiß zu wenig von dem Mann, der am Dachboden des Lainzer Spitals zu Tode kam, weil er vielleicht nur einen kleinen Ausflug machen wollte. Die Zeit im Krankenhaus ist oft öde und von langen Wartezeiten zwischen Behandlungen oder Untersuchungen geprägt. Wer würde da nicht Ausschau halten nach etwas Abwechslung?
Restlos wird sich sicher nie klären lassen, wie der ältere Patient im April ums Leben kam und vor allem nicht, wieso er zwar in den Dachboden hinauf fand, aber nicht mehr herunter. Die Angehörigen müssen sich mit den Gegebenheiten abfinden, und ob etwas geschieht, das den Patienten mehr Sicherheit und auch etwas Kontrolle bietet, scheint mir fraglich. Erst heute habe ich wieder in Österreichs bekanntem Kleinformat eine Notiz von wenigen Zeilen gefunden, die darauf hinweist, dass erneut ein Patient in einem Spital in Österreich abgängig ist
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