Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  September 2004



Patient zweiter Klasse

Gerhard Pollmann sitzt in der Ordination einer Zahnärztin in einer Mühlviertler Provinzstadt. Er selber war noch nie dort, aber ein Bekannter hat sie ihm wegen seiner akuten Schmerzen empfohlen. Einer seiner vorderen Backenzähne schmerzt ihn seit letztem Wochenende und Pollmann ärgert sich über sich selbst, dass er solange zugewartet hat, obwohl der Zahn seit Monaten immer wieder kleine Probleme gemacht hat. Jetzt tobt der Schmerz und der Mann ist sich dessen bewusst, dass die Behandlung vermutlich sehr schmerzhaft sein wird. Die Minuten kriechen auf der Uhr im großen Wartezimmer weiter und endlich wird Pollmann aufgerufen. Die Ärztin begrüßt ihn kurz, er nimmt am „Folterstuhl“ Platz und wird gründlich untersucht.

Minuten später wird eine Wurzelbehandlung durchgeführt von der der arme Patient wegen einer Spritze allerdings wenig merkt. Kurz darauf – die Ärztin hat mehrere Male missbilligend geblickt und den Kopf geschüttelt – wird er mit einem neuen Termin in vierzehn Tagen wieder heimgeschickt. Pollmann ist froh, die Schmerzen halten sich in Grenzen. Schließlich sperrt er wieder die Wohnung auf und beginnt gleich die Stellenangebote in der Zeitung durchzuschauen. Gerhard Pollmann ist nämlich arbeitslos. Schon seit über einem Jahr, und seine Ersparnisse werden mittlerweile knapp. Er muss sich immer mehr einschränken, wenn er nicht die Wohnung verlieren will – und dann stünde er auf der Straße.

Pünktlich zwei Wochen später nimmt Pollmann wieder in der Ordination Platz. Die Prozedur wird wiederholt und bei der Gelegenheit macht ihn die Zahnärztin auf verschiedene Mängel im Gebiss aufmerksam: eine neue Brücke wäre angebracht, dahinten gehört ein Implantat hin, und, und, und… Pollmann hört interessiert zu. Sein Gebiss müsste wieder auf Vordermann gebracht werden, das stimmt. Und wenn es mit dem Job in dem Supermarkt klappt, könnte er auch ein paar Sachen machen lassen. Natürlich nichts Teures, aber dass wieder alles so halbwegs passt. Er willigt ein, in ein paar Wochen wegen eines Kostenvoranschlages vorbei zu kommen. Man kann sich ja alles Mal anschauen, und ein paar Plomben sollten ja auch wieder erneuert werden…

Verbittert knüllt Gerhard Pollmann das Schreiben zusammen und wirft es weg. Der Supermarkt hat ihm abgesagt, man hat sich für jemand anderen entschieden, der vermutlich jünger ist und nicht schon so lange arbeitslos wie er. Wenigstens hat ihm ein Bekannter eines Freundes das Angebot gemacht, am Wochenende ein wenig in dessen Haus zu pfuschen: Wände ausmalen, neue Möbel aufbauen oder beim Umschneiden eines alten Baumes zu helfen. Da kommt auch ein wenig Geld zusammen, aber die Welt ist es nicht. Pollmann seufzt. Am AMS ist die Hilfe gleich Null. Er wird nur gleichgültig oder finster gemustert, je nach dem, und mit Stellenangeboten heimgeschickt, die unter jeder Kritik sind oder seiner Ausbildung nicht entsprechen. So kann es nicht weiter gehen!

Ein paar Tage später muss Gerhard Pollmann wieder zur Zahnärztin. Ihm ist klar, dass es wenig Sinn macht, mit ihr wegen der Rundumerneuerung des neuen Gebisses zu reden. Aber seine Plomben möchte er wenigstens machen lassen, und aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Irgendwann wird er wieder das Geld für die nötigen Verbesserungen am Gebiss haben. Doch Pollmam hat keine Zeit, seine Situation zu erklären, denn die Ärztin rechnet ihm nun detailliert vor, was alles am Gebiss gemacht werden muss und was es kostet: natürlich nur aus Porzellan und teuer hergestellt und als sie ihm den Preis mit honigsüßer Stimme nennt, glaubt Pollmann fast, dass ihn der Schlag trifft: 3.300 Euro fast! Selbst wenn er das Geld erspart hätte, er würde sicher nicht die teuerste Ausführung wählen! geht ihm durch den Kopf!

Verlegen beginnt er seiner Zahnärztin seine Situation zu erklären: „Ich bin arbeitslos… ich kann mir das nicht leisten…, nicht jetzt…“ Reden hat er nie so gelernt, der Herr Pollmann, aber er merkt genau, dass das Gesicht der Frau Zahnarzt immer ärgerlicher wird. „…aber die paar Plomben können wir jetzt ja schon machen“, versucht Pollmann einzulenken. Die Frau Doktor schüttelt den Kopf. „Da gibt es nichts zu machen. Sie können gehen.“ Pollmann weiß nicht, wie ihm geschieht. Seinen Zahnschein bekommt er wieder zurück und die Ordinationshilfe säuselt ihm beim Verlassen des Wartezimmers herablassend zu, dass er sich ja melden kann, wenn er sich das Gebiss machen kann. Pollmann gehen eine Menge Gedanken durch den Kopf als er heimgeht. Aber immer stärker wird die Erkenntnis, die sich ihn ihm manifestiert.  

Er ist bei  dieser Zahnärztin nicht erwünscht, weil er arbeitslos ist, weil er kein Geld bringt…

Vivienne

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