von Vivienne – Juni 2004
Tränen unter der Oberfläche
Schlagzeilen und heftige Diskussionen um jene 17jährige, die sozusagen unter den Augen der Behörden leise an Magersucht starb. Vielerorts erhitzen sich die Gemüter wegen der verschrobenen Mutter, einer fanatischen Vegetarierin, die der Krankheit der Tochter keinen Einhalt bieten wollte. Oder konnte, denn ihr Geisteszustand und ihre Zurechnungsfähigkeit werden noch geprüft. Darauf möchte ich aber heute an dieser Stelle, liebe Leser, gar nicht eingehen. Ich habe in einem meiner ersten Artikel für die Bohne an Hand des Falles jener Mutter, die beim Faschingfeiern ihren kleinen Sohn im Stich und verhungern ließ, die Zahnlosigkeit unserer Behörden schon ausführlich diskutiert.
Mir geht es diesmal um etwas anderes. Darum, dass ja Magersucht oder Bulimie mehr sind, als bloßes nichts essen, als eine simple Essstörung. Magersucht ist eine psychische Krankheit, ein schweres Leiden der Seele, dass sich im Erbrechen von Gegessenem etwa ein Ventil sucht. Der betroffene Mensch, in der Hauptsache Mädchen oder Frauen, fühlen sich zu dick, obwohl sie im Normalfall völlig normal gebaut sind, und hören zu essen auf. Oder sie essen zum Schein, und erbrechen auf der Toilette um sich der Nahrung wieder zu entledigen. Auch dieses Verhalten beschreibt das grausige Leiden nur sehr vordergründig und eindimensional.
Die Erkrankten schreien damit nämlich nach Liebe und Anerkennung. Nicht Nahrung oder gutes Essen sind hier an erster Stelle gefragt, der Hunger gilt menschlicher Wärme, Nähe und zärtlichen Gefühlen. Ich bin zu dick, also liebt mich niemand. Darum esse ich nichts mehr, damit mich wieder jemand mag. So oder ähnlich lauten die Gedankengänge der Magersüchtigen, in völliger Verkennung der Situation. Das zwischenmenschliche Manko verstärkt sich durch die Isolation wegen der Krankheit noch mehr, führt in eine Endlosschleife.
Ein Anachronismus im Grunde. Wenn in der so genannten Dritten Welt Menschen wie die Fliegen an Hunger sterben, kümmert das kaum noch jemand, außer ein paar engagierten Einzelkämpfern und ihren Organisationen. Wenn bei uns ein Mädchen aufgrund seelischer Verkümmerung an Magersucht zugrunde geht, erregt das ein Rauschen im Blätterwald. Verkehrte Welt, möchte man sagen, wenn auch zweifellos der sinnlose Tod der 17jährigen sehr tragisch ist. Auffällig ist in jedem Fall, dass Essstörungen, die sich ja nicht nur in Bulimie oder Magersucht äußern, in unserer westlichen Zivilisation seit einigen Jahren überhand nehmen.
Auch Fettleibigkeit ist nicht einfach nur der Ausdruck unkontrollierten Essens oder einer Schilddrüsenunterfunktion. Denn in starkem Übergewicht steckt weit mehr als nur zuviel und zu fette Nahrung. So manch einer isst eben, weil er seinen Frust damit unterdrückt oder Ärger in der Arbeit leichter wegsteckt. Nicht wenige futtern sich unbewusst aber deswegen nicht weniger gezielt einen Panzer in Form von Fettpolstern an, um das Leben leichter zu ertragen oder Rückschläge zu verdauen. Verstehen Sie was ich meine? Essstörungen aller Art sind im Grunde ein Aufschrei der Seele, sind versteckte Tränen, Leid und mitunter sicher auch Ausdruck einer Depression.
Ich möchte geliebt werden! Nichts anders bedeuten ein dicker Bauch oder ein großes Hinterteil. Fast pervers der Ausdruck jener Auswüchse unserer Zivilisation, in denen der Mensch normalerweise genug zum Essen hat, viele Möglichkeiten nutzen kann ein schönes und angenehmes Leben zu führen, einer Zivilisation, in der er aber auch seelisch verhungert. So viele Ehen werden geschieden, Singlehaushalte steigen der Mensch vereinsamt währende er sich nach Liebe, Zuneigung und Streicheleinheiten für Körper und Seele sehnt.
Abmagerungskuren sind, unter diesem Aspekt betrachtet, völliger Nonsens. Die Seele müsste geheilt werden, ganz zu allererst. Der Mensch, der begreift, dass er liebenswert ist und zudem spürt, dass ihm aufrichtige Zuneigung entgegenkommt, der vergreift sich nicht so leicht unmäßig am Kühlschrank, frisst sich nicht mit Schokolade voll bzw. kotzt dann nicht das Gegessene wieder aus. Ebenso bin ich überzeugt, dass eine wirklich gesunde Seele auch den Genuss von Zigaretten oder Alkohol nicht wirklich nötig hat – im Sinne einer Sucht nämlich.
Aber Seelen zu heilen das darf man hierzulande nicht verlangen. Der Mensch muss funktionieren, nach abstrusen Regeln teilweise und seine Tränen unter der Oberfläche kümmern niemand, solange er das tut. Also wird es immer mehr Leute geben, die an Essstörungen beider Extreme leiden, von anderen Auswüchsen erst gar nicht zureden. Es wäre ja auch zu viel verlangt jedem Menschen ein Grundrecht auf Liebe und zwischenmenschliche Wärme einzuräumen .
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