Neue Bohnen Zeitung


DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne  –  Oktober 2001



Das Killervirus

Ich brauche Ihnen das ja nicht lange erzählen, Sie wissen es ja selbst: Der heurige September war verregnet, die halbwegs warmen Tage konnte man an den Fingern einer Hand abzählen. Bis der Wettergott im Oktober endlich für ein wenig Ausgleich sorgte und einen herrlichen Altweibersommer herbeizauberte. Wie viele andere Leute, Sie wahrscheinlich auch, nutzte ich die letzten Wochen intensiv für Ausflüge und Spaziergänge. Der nächste Winter kommt bestimmt. Fahrlässigerweise trug ich auch an den schon kühleren Abenden  kaum mehr als eine dünne Jacke über den Sweat-Shirts  – und musste das bald bereuen. Als ich nämlich neulich von einem längeren Ausflug an die herbstlich verwandelte Donau zurückkam, hatte ich schon heftige Kopfschmerzen. Ich schob das aber auf den Fön und dachte mir noch wenig dabei. Am nächsten Morgen konnte ich es aber nicht mehr ignorieren: Kopf und Hals schmerzten stark, die Nase war „zu“ und meine brüchige Stimme ließ Vermutungen aufkommen, ich hätte ein paar Nächte durchgemacht. Ich konnte es drehen, wie ich wollte – ich musste zu meinem Hausarzt und mir ein paar Medikamente holen. Denn sonst – das konnte ich in meiner üblen Verfassung sicher einschätzen – würde ich wieder einige Wochen an dieser Erkältung laborieren.

Ich nahm also gottergeben den Bus und machte mich auf dem Weg zu meinem Hausarzt. Die Ordination war gestopft voll: junge Leute, alte Leute, Kinder, Leute in meinem Alter – irgendwie fand ich dann doch einen Sitzplatz. Die Zeiger der Uhr im Wartezimmer schienen angefroren, relativ rasch hatte ich jedes Zeitgefühl verloren. Immer wieder kämpfte ich gegen das tiefe Bedürfnis einzuschlafen, nickte auch tatsächlich ein paar Mal ein. Zwischendurch betrachtete ich das Muster der Tapete auf der Wand. Die Blumen darauf verschwammen vor meinem Auge zu einem bunten Klecks. Eine fröhliche Männerstimme aus dem Radio war bemüht, gute Stimmung zu verbreiten. Aber mehr als einmal musste ich dem inneren Drang, den Stecker des Radiogerätes aus der Steckdose zu ziehen, widerstehen. So nervte mich der gute Mann, ohne es zu wollen. Nach einer halben Ewigkeit rief mich die Arzthelferin endlich auf und ich begab mich unsicheren  Schrittes in die Ordination.

Mein langjähriger Hausarzt, Ernst, begrüßte mich jovial, als wollte er in Konkurrenz mit dem Radiomoderator treten: „Na, was kann ich für dich tun?“ Ich unterdrückte eine wenig höfliche Antwort, die ich schon auf der Zunge hatte, und wies kurz und mit brechender Stimme auf meinen bedauernswerten Allgemeinzustand hin. Gott sei dank sparte sich Ernst daraufhin jedes unnötige Wort: sah sich meine Mandeln und die Zunge an, maß mir den Blutdruck, befühlte die Lymphknoten am Hals und was halt sonst noch dazugehört. Dann murmelte er etwas von einer Seitenstrangangina, aber mehr zu sich selbst, wie es seine Art war. „Da wirst du Antibiotika nehmen müssen, ich schreib dir noch ein paar Sachen zusammen. Gegen die Kopf- und Gliederschmerzen, die Übelkeit, du weißt schon. Das holst du dir dann aus der Apotheke.“ Ich blickte ihn zweifelnd an und nahm das Rezept und die Krankmeldung an mich. „Leg dich gleich wieder hin“, riet er mir, während er mir die Hand gab. „Wenn noch Husten dazu kommt, ruf mich gleich an.“

Ich blieb noch stehen, versuchte, sein unscharf vor meinen Augen tanzendes Gesicht zu lokalisieren. Da kommt noch was, ich wusste es: der Hammer. Ernst nahm die Brille ab, sah kurz auf die Seite und blickte mich dann mitfühlend an. „Übrigens – keine Zigaretten in den nächsten Tagen.“ Du Teufel, dachte ich mir und wankte aus der Ordination. Ich weiß nicht mehr, wie ich aus der Praxis herauskam. Meine Gedanken kreisten um den einen Satz „Keine Zigaretten in den nächsten Tagen.“

Wie sollte ich das bloß durchhalten?

Am Abend ging es mir kein bisschen besser. Ich hatte getreu dem ärztlichen Rat den ganzen Tag im Bett verbracht – ich bin ja eine brave Patientin – aber weder Schlaf noch ein wenig Erholung gefunden. Zwar schmerzte der Kopf nicht mehr so sehr, aber vom Antibioticum war mir speiübel geworden. Neben  meinem Bett hatte ich einen Kübel für den Notfall deponiert – man weiß ja nie. Meine Stimme hatte sich zu einem heiseren Flüstern reduziert. Den ganzen Tag hatte ich nur heißen Kamillentee geschlürft, ungesüßt. Feste Speisen konnte ich – das hatte ich schon ausprobiert – ohnedies nicht bei mir behalten. Ob das die Nebenwirkungen des Antibioticums oder eine Folge der Erkrankung war, konnte ich als Laie nicht sicher sagen. Ich tippte aber auf das Antibioticum – Erfahrungswerte. Mir war schwindlig, es schien mir zeitweise fast unmöglich die paar Schritte auf die Toilette ohne gröberen Sturz zu bewältigen. Und der Hals tat mir beinahe unerträglich weh. Ich konnte kaum schlucken und musste mich ständig räuspern.

Im ganzen Schlafzimmer roch es penetrant nach Pfefferminz, weil ich immer wieder versuchte, mit Chinaöl die Nase frei zu bekommen. Ein sinnloses Unterfangen: nickte ich doch einmal für ein paar Minuten ein, sorgte die verstopfte Nase schnell wieder dafür, dass ich rasch aus der Traumwelt kam. Einer Traumwelt übrigens, die mir ohnedies keine angenehmen Bilder vorgaukelte. Alles wirkte so trüb und so schwer und so drückend…

Am Abend meldete sich Philip, ein Kollege, am Handy, das ich griffbereit auf dem Nachttisch liegen hatte. Eigentlich wollte er nur wissen, wie weit ich schon mit meinen Erkundigungen gekommen war: wir hatten für eines der nächsten Wochenenden mit ein paar Kollegen einen Ausflug geplant… Aber ich ließ ihn nicht weiter zu Wort kommen sondern redete mir, oder besser gesagt, hauchte – meine Stimme schaffte nicht mehr! –  meinen ganzen Frust wegen dieser Seitenstrangangina von der Seele. Philip hatte keine Chance, er musste mir zuhören, konnte kaum ein eigenes Wort anbringen. Schließlich tat er das einzig Richtige – er kannte mich ja – und unterbrach mich geschickt: „Du Ärmste, dich hat’s ja erwischt. Aber ich muss jetzt Schluss machen, weißt du, meine Frau wartet mit dem Abendessen. Sie hat Fisch gemacht, und den soll man ja nicht kalt werden lassen. Ich melde mich dann nächste Woche. Gute Besserung!“

Spielverderber, schimpfte ich und legte das Handy wieder weg. Aus meinen trüben Augen konnte ich im Raum kaum etwas deutlich wahrnehmen. Ich war auch nicht in der Lage fernzusehen, da ich keine Person am Bildschirm erkennen konnte. Ich schloss die Augen und befeuchte meine trockenen Lippen mit der Zunge. Vor meinem geistigen Auge tauchte eine brennende Zigarette auf, ich konnte sie förmlich riechen, sie roch so gut… Ein müdes Lächeln schlich über meinen Mund. Ernst und seine guten Ratschläge konnten mir gestohlen bleiben. Ich richtete mich mühsam auf, begann in meiner Handtasche zu kramen und holte die Zigarettenpackung und das Feuerzeug heraus. Das kostete mich alles unendlich viel Kraft. Ich schnaufte einige Augenblicke und mein Puls raste. Schließlich, nach ein paar Minuten, griff ich in die Schachtel und holte die schlanke, weiße Zigarette heraus: ein Ebenbild an reiner Schönheit – so schien sie mir in diesem Moment. Ich zündete sie an und sog den Rauch tief und fast insbrünstig in meine Lungen, ich wollte den Genuss  in seiner ganzen Intensität auskosten…

Meine Lungen offenbar nicht. Nach wenigen Sekunden schon hustete ich, wie um mein Leben. Ich glaubte, ersticken zu müssen. In Panik warf ich die Zigarette weg, fasste mir an den Hals und rang nach Luft, Luft, Luft… Nach einer Ewigkeit, wie mir schien, hatte sich die akute Atemnot wieder gelegt. Es tat weh zu atmen, aber wenigstens bekam ich wieder Sauerstoff in meine Bronchien. Erschöpft ließ ich mich ins Kissen gleiten, völlig fertig und ohne Kräfte. Mein Gott, die Zigarette! schoss es mir plötzlich. Zu spät. Sie lag unschuldig weiter unten auf der Decke, wo ich sie in der momentanen Panik hingeworfen hatte.  Neben ihr bereits ein kleines Loch, in den Bezug gebrannt. Wütend dämpfte ich den Glimmstengel aus und nannte mich dabei selbst eine Närrin. Nie, nie zuvor hatte ich im Bett geraucht. Man kann beim Rauchen schließlich einschlafen, den Gestank einer einzigen Zigarette bekommt man ewig nicht aus dem Schlafzimmer. Und ein einziger Zug von einer einzigen Zigarette, völlig marod und groggy im Krankenbett gepafft, und ich habe ein Loch im Deckenbezug…

Dieser kurze Rauchversuch hatte mich eine Menge Energien gekostet. Eine Zeit lang döste ich wie wirr vor mich hin. Als ich wieder richtig wach wurde, war es dunkel bei mir. Ich schaltete das Nachttischlämpchen an und quälte mich wieder auf die Toilette. Schließlich griff ich nach dem Fieberthermometer um meine Temperatur zu messen. Es fühlte sich kalt auf meiner Haut an und ich fror gleich wieder. 39.2 las ich vom Display. Mein Mund war so trocken und ich trank ein wenig Tee aus der Tasse. Ich stöhnte und sah auf die Uhr: 21.37 Uhr. Das wird eine Nacht werden, dachte ich mir und schloss die schmerzenden Augen.

In der Früh weckte mich nach unruhigem Schlaf ein trockener Husten, der in der Brust weh tat. Ich überlegte, ob ich meinen Hausarzt anrufen sollte. Aber vielleicht kam der Husten ja nur von der einen Zigarette gestern. Besser gesagt, von dem einen Zug von der einen Zigarette, richtig. Ich entschloss mich noch zu warten. Es war erst 7 Uhr gewesen, der Tag hatte gerade erst begonnen. Außerdem kannte mich Ernst: der wusste genau, dass ich das Rauchen nicht gelassen hatte und würde mir eine Predigt halten. Mühsam raffte ich mich wieder auf, um Tee für meine Thermoskanne zuzustellen. Jede Bewegung tat mir weh, mir war nach wie vor schwindlig, schlucken und reden bereitete mir Schmerzen. Mein Haar war strähnig und griff sich fettig an.

Folgsam griff ich wieder zu den Medikamenten und schluckte das ganze Zeugs. Während ich den Tee ziehen ließ,  blieb ich auf dem Hocker in der Küche sitzen und dachte nach. Das Handy riss mich schließlich aus meinen Überlegungen. Viktoria war dran, und durch den Schwung und Elan, den sie am Telefon vermittelte, fühlte ich mich noch elender. „Hallo Vivienne!“ tönte sie fröhlich. „Na, ist das ein Tag? Was hältst du davon, wenn wir ein wenig nach Bad Leonfelden fahren? Es muss dort heute wundervoll sein! Dann schauen wir noch zum Kastner…“ Sie unterbrach sich, da ich noch kein Wort gesagt hatte. „Vivienne, was ist los?“ Ich räusperte mich mühevoll und schaffte es, mich in ein paar halbwegs verständlichen Sätzen zu erklären. Vicky schwieg betroffen. „Das tut mir echt leid. Weißt, viele Leute sind momentan verkühlt. Das vergeht wieder.“

Dass es wieder vergeht, wusste ich auch. Ich fühlte mich trotzdem mies und ich spürte außerdem, wie das Antibioticum zu wirken begann: mir wurde nämlich wieder übel. Viktoria übertraf sich nun in guten Ratschlägen. Sie empfahl mir Cola gegen die Übelkeit. Bevor sie mir aber des Langen und des Breiten alte Hausmittel der Familie einreden konnte, machte ich dem Gespräch ein Ende. Ich hatte keine Lust auf Wadenwickel und Lindenblütentee, mit Honig gesüßt. Und wer weiß, was sonst noch. Mir reichte die Medikamentenpalette, die mir Ernst verschrieben hatte, völlig. Auf Experimente dieser Art wollte ich mich gar nicht einlassen. Ich legte mich also wieder ins Bett und versuchte ein wenig zu schlafen. In der Nacht hatte ich schließlich kaum zwei, drei Stunden Ruhe gefunden. Doch auch jetzt schien sich der Schlaf wieder nicht einstellen zu wollen, obwohl ich so müde war. Ich griff zur Fernbedienung und zippte durch die Programme. Auf  einem „Privaten“ blieb ich hängen, wollte mir eine Serie zu Gemüte führen. Bevor ich aber wusste, worum es überhaupt ging, schlief ich dann aber mit einem Mal rasch ein.

Als ich schließlich wieder aufwachte, war es schon später nachmittag. Ein plärrender Werbespot hatte mich aus den Träumen gerissen. Ich tastete nach der Fernbedienung, aber noch ehe ich sie fand, war der Ton schon weg. Ich begriff nicht gleich, da erst registrierte ich meine Schwester Beatrice, die mich von der Seite angrinste, mit der Fernbedienung in der Hand. „Na, was ist los mit dir?“ Beatrice war schon vor einer halben Stunde mit dem Zweitschlüssel in meine Wohnung gekommen. Ich hatte ihr Läuten nicht gehört, weil ich so tief geschlafen hatte, und natürlich wegen des Fernsehlärms. Ich richtete mich im Bett auf und rieb mir die Augen. Beatrice setzte sich ans Bett und sah mich an. „Ich habe Vicky vor einer Weile getroffen. Sie sagte etwas von einem Killer-Virus, das du erwischt hast.“ Ihr Blick glitt prüfend über mein Gesicht. „So wie du aussiehst, hat sie nicht übertrieben.“ „Du solltest mir erst einmal zuhören, bevor du eine Diagnose stellst“, widersprach ich ihr mit krächzender Stimme. Aber gut, der Hals tat nicht mehr so weh. Das war schon was.

Während Beatrice ein mageres Süppchen für mich kochte, nahm ich ein heißes Bad und wusch mir den Kopf. Da fühlte ich mich dann wieder wie ein Mensch. Ich aß  – genötigt von Beatrice – auch ein paar Löffel von der Suppe und musste zugeben, dass ich wieder ein wenig zu Kräften gekommen war. „Du bist wirklich blass“, schüttelte Beatrice den Kopf, bevor sie meine Wohnung wieder verließ. „Stell also nix an.“ Das haben große Schwestern so an sich, dachte ich bei mir. Auch wenn sie in Wirklichkeit fünf Jahre jünger aber dafür zehn Zentimeter größer gewachsen sind. Wieder läutete das Handy. Ernst, mein Hausarzt, war dran. Seine Ordination würde er in einer halben Stunde schließen und er fragte mich, wie es mir ginge und ob ich etwas bräuchte. Wir plauderten kurz, dann warf er noch ein: „Du hast doch nicht geraucht, oder?“ „Aber du hast mir doch ausdrücklich verboten…“,setzte ich zum Widerspruch an. „Na“, grinste Ernst. „ich kenn‘ dich doch! Aber ich glaube schon, dass du brav warst, sonst würde es dir nicht schon besser gehen.“

Als er aufgelegt hatte, betrachtete ich noch einmal das Brandloch im Bezug. Die schöne Bettwäsche! Aber jetzt konnte ich wenigstens wieder klar denken, das Fieber war auch deutlich heruntergegangen. Nach einer Zigarette gelüstete es mich aber im Moment gar nicht. Ich holte mir die Zeitung, die seit der Früh vor der Tür gelegen hatte,  und begann zu blättern. Was sich in einem Tag alles tut, dachte ich bei mir. Schließlich bekam ich wirklich so etwas wie Hunger. Ich richtete mir ein belegtes Brot her und setzte mich zum Fernseher. Schmeckte gar nicht so übel. Und die Personen auf dem Bildschirm sahen wieder wie Menschen aus und nicht wie Phantome…

Das Handy meldete sich während der Nachrichten noch einmal. Kaum zu glauben, aber ein bestimmter junger Mann rief mich doch tatsächlich auch an. Woher er wusste…? Er war Beatrice am späten Nachmittag in einem Geschäft über den Weg gelaufen… die Welt ist klein. Wir redeten eine ganze Weile, genaugenommen sogar ziemlich lange. Der junge Mann sagte mir ein paar ganz reizende Dinge, und als ich schließlich auflegte, war mein Puls auch erhöht. Aber das lag sicher nicht am Fieber, ganz bestimmt nicht. Und außerdem ging es mir jetzt ziemlich gut, eigentlich sogar ausgezeichnet. Was ist schon so eine Seitenstrangangina! Und überhaupt: Was uns nicht umbringt, macht uns noch stärker. Sagte schon Nietzsche. Da hat ein Killer-Virus keine Chance.

Vivienne

 

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