Neue Bohnen Zeitung


Die bunte Welt von Vivienne
von Vivienne  –  August 2001


Versteh‘ einer die Frauen …
Teil 4

„Es sind die Begegnungen mit Menschen, die das Leben lebenswert machen,“ formulierte der Schriftsteller Guy de Maupassant schon im 19. Jahrhundert. Ja, es gibt Leute, die hinterlassen im eigenen Leben keine Abdrücke: man trifft sie, und schon sind sie wieder vorbei, ohne dass sie einen verändert oder bemerkt haben. Oder man sie. Im Gegensatz dazu schneit es dann auch Menschen in unser Leben, die durch die Begegnung mit ihnen Weichen in uns stellen, uns in Richtungen lenken, positiv oder negativ, die eine Umkehr zu alten, eingesessenen Pfaden unmöglich machen. Was auch immer danach noch kommt. Sind sie auch irgendwann wieder aus unserem Leben entschwunden, bleiben sie doch auf eine gewisse Weise immer allgegenwärtig. Wie Laternen in der Dunkelheit, die uns grüßen, wenn wir uns auf unserem Weg einmal umdrehen.

In meiner Zeit in jenem Großhandelsunternehmen in Linz traf ich gleich einige solcher Menschen, ohne die ich nie die geworden wäre, die ich bin, sei es durch ihre Freundschaft oder auch durch weniger positive Dinge. Man trifft nur Menschen, die man gerade selber braucht oder die einen brauchen, bringt es eine meiner besten Freundinnen immer wieder auf den Punkt. Daher auch heute wieder ein Exkurs in die „Linzer Zeit“, in der ich tiefe Blicke in die menschliche Seele und auch deren Abgründe werfen durfte: ein buntes Panoptikum an verschiedensten Charakteren, das ich in dieser Vielfalt bisher nicht wieder erlebte. Frauen untereinander betrachtet sind so verschieden wie Tag und Nacht und doch auf unglaubliche Weise wieder so ähnlich, dass eine weibliche Seele so schwer zu erfassen scheint wie eine Sternschnuppe in der Nacht: sie leuchtet auf, doch ehe die Augen sie so recht in den Blick nehmen können, ist sie schon wieder verglüht. Eine Frau bleibt ein Rätsel…

In jenem Großhandelsunternehmen war die Abteilungsleiterin meine unmittelbare Vorgesetzte. Sie war ein paar Jahre älter als ich, sah sehr verhärmt und unscheinbar aus, wirkte nicht nur auf mich eher ungepflegt. Ihr schulterlanges, braunes Haar sah meist aus, als könnte es etwas Shampoo vertragen. Von anderen Pflegeprodukten erst gar nicht zu reden. Etwas Make-Up und Lippenstift hätten einen anderen, attraktiveren Menschen aus ihr gemacht, zumindest optisch. Ricarda Neumeier, wie sie hieß, hatte einen kleinen Sohn, Josef, damals vielleicht drei Jahre alt, und war geschieden. Mehr erfuhr ich für den Anfang nicht, die lieben Kollegen, die mir später noch so ans Herz wachsen sollten, waren mir gegenüber noch sehr misstrauisch und reserviert. Genauso im Übrigen wie ich ihnen gegenüber.

Frau Neumeier war mir ungefähr so sympathisch wie Kuchenbröseln im Bett. Ihr Wesen konnte zeitweise so ätzend wie Schwefelsäure sein. Ich ging ihr tunlichst aus dem Weg, wenn es sich einrichten ließ, und in den Jahren dort habe ich kaum ein privates Wort mit ihr gewechselt – aus eben diesem Grund. Wenn ich bei ihr im Büro war, fiel mir immer auf, dass unser Chef, Herr Rossecker, kaum eine Gelegenheit ausließ, sie durch den Kakao zu ziehen. Manchmal war er richtiggehend verletzend zu ihr. Ich dachte mir das eine oder andere Mal, dass ich mir das an ihrer Stelle nicht gefallen lassen würde. Laut sagte ich aber gar nichts dazu, aber eigenartig kam es mir schon vor. Solche Momente hinterließen immer einen zwiespältigen Eindruck in mir: welcher Chef macht denn normalerweise eine Abteilungsleiterin neben den Angestellten, sprich: dem „gemeinen Fußvolk“, herunter?

Wenn ich in Gegenwart der Kollegen laut darüber nachdachte, fiel mir auf, dass ein Teil von ihnen daraufhin regelmäßig das Thema wechselte. Gertraud, eine der altgedienten Kolleginnen, sah mich dann immer wissend durch ihre dicken Brillen an und nickte mit dem Kopf, ohne auch nur mit einem Wort auf meine Überlegungen einzugehen. Celine, eine besonders liebe „Schicksalsgenossin“, taute mir gegenüber einmal an einem sehr ruhigen Nachmittag auf. Ich erfuhr von ihr, dass Frau Neumeier vor der Geburt ihres Sohnes nicht weniger als drei Fehlgeburten gehabt hatte. Auch während sie schwanger zu ihrem kleinen Sohn war, musste sie mehrmals in eine nahegelegene Privatklinik: Infusionen, Bettruhe und eine Reihe von Untersuchungen waren immer wieder notwendig, damit die Frau nicht auch dieses Kind wieder verlor. Trotz der risikoreichen Schwangerschaft kam Ricarda Neumeier auch während des Mutterschutzes und – unglaublicherweise! – schon zwei Stunden nach der Geburt wieder für einen halben Tag in der Firma.

Ich hörte Celine mit offenen Ohren zu und schüttelte den Kopf. Das würde mir doch im Traum nicht einfallen! Ich versuchte mir im Kopf ein Bild von unser Abteilungsleiterin zu machen: sie war alles andere als hübsch, aber doch mit einem sehr netten Mann verheiratet gewesen. Hatte drei Kinder während der Schwangerschaft verloren, durch Überarbeitung. Riskierte das Leben ihres ungeborenen Sohnes – und irgendwo auch das eigene – in dem sie ohne Rücksicht auf Verluste das Wohl der Firma über ihr eigenes stellte – und über das ihrer Ehe… Hätte ich mich damals eingehender mit diesen Tatsachen auseinandergesetzt, wäre ich wohl schneller hinter die Zusammenhänge gekommen. So kaute ich an diesen Informationen und meinte dann, halb zu mir und halb zu Celine: „Tragisch ist wohl im Besonderen, dass ihre Ehe dann trotz des Kindes auseinandergegangen ist.“ Celine zuckte zusammen und sah betreten nach unten. Was habe ich denn jetzt wieder Falsches gesagt? dachte ich betreten. Aber aus dem Mädel war an diesem Nachmittag dann kein Wort mehr über unsere Chefin herauszubringen.

Eine Weile darauf kontrollierte ich eine Warenlieferung. Gertraud, die, wie sie später einmal zugab, zu meiner Anfangszeit kein besonderes Vertrauen in meine Fähigkeiten hatte, beäugte mich dabei argwöhnisch von der Seite. Mir waren einige Warenkürzel noch unklar, deshalb fiel mir auch nicht wirklich auf, dass ein älteres Ehepaar mit einem kleinen Jungen ins Geschäft kam. Erst als der Knirps, sehr selbstsicher und offensichtlich mit der Umgebung vertraut, vor meinen Füßen auftauchte, sah ich ihn mir genauer an. Ich war etwas verwirrt, der Bub erinnerte mich an jemandem, in seiner Art, in seinem ganzen Gehabe und in seinem Aussehen… Ich überlegte noch, da meinte Gertraud zu dem Ehepaar, das ich bisher nicht beachtet hatte: „Die Ricarda ist oben in ihrem Büro.“

Als die drei in den Lift gestiegen waren, stieß ich Gertraud an und fragte neugierig: „Du, wer war denn das?“ Gertraud blickte mich wie üblich sphinxartig durch ihre Brillen an. „Das waren die Eltern unserer lieben Chefin. Und der Kleine ist ihr Sohn, Josef.“ Ich hatte das Gefühl, als hätte mich der Blitz getroffen. Das Chaos in meinem Kopf begann herumzuwirbeln, ein Sturm, nein, ein Orkan setzte ein. Genau so schnell war das Ganze wieder vorbei. Alle Fakten, Erzählungen und Andeutungen der letzten Wochen hatten sich in wenigen Sekunden zu einem klaren Bild zusammengefügt. „Du, Gertraud“, grinste ich daraufhin die Kollegin an, „aber der Knirps da, das ist wohl nicht auch zufällig der Sohn von unserem Chef?“ Gertraud ließ sich nie gern in die Karten blicken, aber in diesem Moment konnte ich den Ansatz eines Lächelns bei ihr feststellen. „Na, was glaubst…“

Ich musste mich wirklich zusammennehmen, um mich wieder der Lieferung zu widmen. Natürlich, der Kleine hieß Josef, wie sein Vater, und sah ihm so ähnlich wie – heute würde man sagen – ein Klon. Klarerweise ging die Ehe der Frau Neumeier in die Brüche, wenn sie ein Kind von einem anderen Mann erwartete. Logisch, dass für das ungeborene Kind des Geschäftsführers auch die Kosten in der Privatklinik keine Rolle spielten. Nachvollziehbar, dass die Frau Abteilungsleiterin für den geliebten Mann und Vater ihres Kindes auch während des Mutterschutzes in die Firma kam. Und kein Wunder, dass mir in der Firma niemand davon erzählen wollte: immerhin war der Chef, Herr Rossecker, seit mehr als dreieinhalb Jahren mit einer anderen Frau verheiratet und hatte mit ihr eine Tochter, die ungefähr so alt wie sein außerehelicher Sohn war. In der Zeit hatte der Herr Geschäftsführer wohl ausnehmend „befruchtend“ auf die Frauen in seinem Umfeld gewirkt – „Respekt“!

Als wir mittags einmal beisammen saßen, „fütterte“ mich Gertraud dann noch mit pikanteren Details dieser Affaire. Gertraud war nämlich mit der Abteilungsleiterin einmal befreundet gewesen, bevor diese zur Abteilungsleiterin avancierte und kannte sie schon etliche Jahre. In der Ehe der Neumeiers hatte es schon einige Zeit gekriselt. Herr Neumeier hatte sich seit langem sehnlichst ein Kind gewünscht. Die Fehlgeburten und dass seine Frau so viel Zeit in der Arbeit verbrachte war zusätzlich für das Klima in der Ehe nicht gerade förderlich. Etwa um die Zeit als Ricarda Neumeier mit ihrem Chef ein Verhältnis begann, verliebte sich auch ihr Mann neu – und das leidenschaftlich: in eine sehr attraktive, liebevolle Frau, die groteskerweise fast zehn Jahre älter war als er. Die Ehe der Neumeiers ging auseinander, ob das jetzt am Kind vom Chef oder an der neuen Liebe des Ehegespons lag, ließ sich nicht mehr eindeutig klären. Herr Neumeier war dem Vernehmen nach vor ein paar Jahren doch noch Vater von Zwillingen, zwei Mädels, geworden. Seine zweite Frau hatte, obwohl nicht mehr ganz jung, das Risiko einer Schwangerschaft erfolgreich auf sich genommen…

„Ricarda war also schwanger von unserem lieben Chef“, fuhr Gertraud fort. „Trotzdem hat er kurz darauf geheiratet, und zwar seine langjährige Freundin. Vermutlich, weil die auch von ihm schwanger war, aber das erfuhren wir erst später.“ Gertraud putzte die Brille und setzte wieder den Sphinxblick auf. „Als Entschädigung, mehr oder weniger halt, hat er die Neumeier dann zur Abteilungsleiterin gemacht. Offiziell hat er die Vaterschaft übrigens nie anerkannt. Aber er zahlt, und, nachdem was Ricarda sagt, ziemlich viel.“ Ich schluckte und atmete ein paar Mal hörbar ein und aus. Schon eine witzige Geschichte, keine Frage. Wir schwiegen eine Weile, bis ich die Neugier dann doch nicht zurückhalten konnte: „Und, haben die beiden noch immer was miteinander? Läuft da noch was?“

Gertraud lachte laut auf. Das passierte bei ihr sehr selten. Dann sah sie mich wieder durch die Brillen an und – Sphinxblick“, eh scho wissen – hob die Augenbrauen: „Na, was glaubst…“ Es gab noch eine Reihe von Anekdoten zu dem Thema. Etwa, wie der Herr Prokurist, als er eines Abends spät noch in die Firma kam, die beiden beinahe in flagranti auf dem Schreibtisch erwischt hatte – plötzlich war das Licht aus… Es war, als hätte die Offenlegung der Affaire zwischen Chef und Abteilungsleiterin das Eis zwischen den Kollegen und mir gebrochen. In jeder Hinsicht. Das sollte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft werden….

Mittlerweile bin ich einige Jahre von der Firma weg. Die Leute dort habe ich völlig aus den Augen verloren. Aber wenn ich mich so an die Zeit zurückerinnere: glücklich war sie jedenfalls nicht, die Neumeier. Ein Mauerblümchen, eine Mimose. Hart aber ungerecht zu den Mitarbeitern. Unbefriedigt, wie ich auch immer wieder gern boshaft formulierte. Im Schatten des Mannes, den sie liebte, nur die Nummer zwei in seiner Hierarchie. Wobei ich mir damals doch ziemlich sicher war, dass dem Chef mehr an ihr lag, als er offen zeigte, was wohl auch Ausdruck seiner zwiespältigen Persönlichkeit war. Keine Ahnung, was damals in ihm vorging, als er erfuhr, dass zwei Frauen fast gleichzeitig von ihm schwanger waren. So was passiert eben nicht nur Boris Becker…

Was wohl in der Neumeier  vorging, als ihr klar wurde, dass er sie nicht heiraten würde oder -konnte…? Dass sie trotzdem nicht nur im Unternehmen blieb sondern auch das Verhältnis mit dem Geschäftsführer fortsetzte, war für mich immer schwer zu begreifen. Aber jeder Mensch stellt andere Ansprüche an seine/n Geliebte/n. So manche/r gibt sich auch mit der Nummer 2 zufrieden, wenn der/die Angebetete nur manchmal wenigstens ein wenig Zeit hat für sie/ihn… „Trostlos zu sein ist Liebenden der schönste Trost, Verlornem nachzustreben selbst schon mehr Gewinn als Neues aufzuhaschen.“ Goethe trifft doch immer wieder den Kern.

Vivienne

 

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