von Vivienne – April 2004
Der Herrscher der Welt
Schau her! Ich deutet Albert mit dem rechten Arm. Das ist die Hauptschule, in die ich früher ging. Mein Freund folgte meinem Blick, während ich schon auf das Gebäude gegenüber wies. Und daneben gleich die Volksschule. Ich lächelte Albert verschmitzt an. Es ist, als obs erst gestern gewesen wäre. Und trotzdem Ali zog amüsiert über meine Begeisterung die Augenbrauen hoch. Ich ignorierte das völlig, halb in Erinnerungen versunken. Bald werden es 25 Jahre, dass ich das letzte Mal in der Pflichtschule war. Stell dir vor: 25 Jahre!
Samstagmittag vor ein paar Wochen. Albert und ich absolvierten eine Visite bei meinen Eltern, und da das Wetter einladender war, als der Wetterbericht zuvor verheißen hatte, waren Albert und ich nach dem Kaffee zu einem längeren Spaziergang aufgebrochen. Die Sonne strahlte, fast schien es erholt nach der Winterpause, vom Himmel und hatte sich gestärkt indem sie den Schnee rundum verputzt hatte quasi zum Frühstück. Es tat gut durch die vertraute Umgebung zu schlendern. Wir zwei, Albert und ich, waren viel zu selten gemeinsam hier in meinem Heimatort und deshalb nutzte ich die Gelegenheit, meinen Freund ein wenig mit meiner Vergangenheit vertraut zu machen.
Immerhin kannten wir uns jetzt schon eine Reihe von Jahren, noch aus der Zeit in der Großhandelsfirma, in der Albert noch immer redlich in der EDV-Abteilung werkte, aber es hatte eine Zeit zuvor gegeben. Und an der wollte ich ihn auch teilhaben lassen, aus einem inneren Bedürfnis heraus. Und Albert machte dabei gerne mit nicht ohne die ihm eigene Ironie. Inzwischen hatten wir den Schulen den Rücken gekehrt und waren am neuen Gemeindeamt vorbeispaziert, was Ali ziemlich teilnahmslos registriert hatte. Der Reiz des Amtsgebäudes hielt sich für ihn in Grenzen. Unser Bürgermeister wäre schockiert gewesen. Die Straße begann sich zu winden, führte immer steiler nach oben, bis sie in ebensolchen Windungen wieder nach unten führte.
Die Aussicht war nicht schlecht, gerade recht beleuchtet durch den Sonnenschein und den fast wolkenlosen Himmel. Albert und ich waren leicht ins Schnaufen gekommen. Ja, diese Beschwerden waren ohne Zweifel eine Folge des Rauchens. Aber nun war die Steigung vorbei und bald atmeten wir wieder hörbar leiser. An der Zughaltestelle vorbei auf der ehemaligen Bundestrasse in Richtung Steyregg fasste mich Albert plötzlich am Arm. Ein Marterl? Was ist denn da passiert? Betroffen blieb ich stehen. Mein Gott, wie hatte ich das nur übersehen können! Ein Datum stand auf dem schmiedeeisernen Kreuz, und meine Erinnerung setzte eine Zeitreise in mir in Gang. Alex. Ein Schulkollege von mir, gestorben vor mehr als 20 Jahren, in eben dieser Kurve.
Albert hörte mir still zu. Alex hieß er also. Beinahe ein Kind. War er ein guter Freund von dir? Ich atmete tief ein. Ein guter Freund? Na ja, kann man nicht unbedingt sagen. Ich dachte angestrengt nach. Weißt du, er hat sich immer ein wenig lustig gemacht über mich. Ich musste schmunzeln. Er hat mich immer Kaffeehäferl genannt. Wenn ich mich ärgerte, und das geht bei mir manchmal sehr leicht, das weißt du ja, dann stemmte ich immer die Arme in die Hüfte und fing zu keppeln an. Leise begann ich zu lachen und sah Ali an. und er hat halt gemeint, dann sähe ich so aus, wie ein Kaffeehäferl. Mein Freund amüsierte sich königlich. Kaffeehäferl? Köstlich! Ich sehe dich richtig vor mir mit deinen Zöpfen und mit empörtem Gesicht!
Ja, das war ein Spitzname von mir in meiner Hauptschulzeit, gestand ich Ali ein. aber nicht der einzige. Bei weitem nicht! Tatsächlich? Albert schien richtig neugierig geworden zu sein. Was denn noch? Welche Kosenamen hat meine Vivi in ihrer Schulzeit noch bekommen? Ich glaub nicht, dass dich das wirklich interessiert, versuchte ich dem Thema auszuweichen. Gut genug konnte ich mir vorstellen, wie mich mein Freund in den nächsten Wochen mit alten Spitznamen aufziehen würde. Aber Ali ließ sich nicht abspeisen, ganz im Gegenteil. Er nahm meine Hand, zog mich zu sich und blickte mich wortlos aber erwartungsvoll an. Ja, ich hatte schon eine Reihe von solchen Spitznamen, und die meisten kamen von Alex. Alis steter und unnachgiebiger Blick ließ mir keine Wahl. und einer davon war Frau Pürree.
Albert prustete los. Frau Pürree? Und das hast du mir bis heute verschwiegen? Genau das hatte ich kommen sehen. Wie bist du zu dem Namen gekommen? Das ist aber ziemlich offensichtlich, antwortete ich Albert. Das hängt doch mit meinem Familiennamen zusammen. Albert lachte noch immer, bemüht mich nicht zu ärgern, aber der Unterhaltungswert dieser Offenbarung war für ihn enorm groß. Frau Pürree. Sag, der Alex muss doch ein lustiger Kerl gewesen sein, oder? Wieder musste ich nachdenken. War Alex ein lustiger Kerl gewesen? Alex war ein armer Teufel, fuhr ich dann im ersten Moment ziemlich schroff fort. Einer, der sich wahnsinnig schwer tat im Leben Fuß zu fassen. Ich blickte Albert, der schnell wieder ernst geworden war, direkt in die Augen. Er hatte das Manko eines reichen Vaters und eines miesen Lehrers, unseres Klassenvorstandes, zu tragen. Eine halbe Katastrophe in der Kombination.
Wir gingen wieder. Albert hatte den Arm um mich gelegt und ließ mich im Schatz meiner Erinnerungen wühlen. Einmal hat er mir erzählt, die Leute sollten einmal aufpassen, wenn er Herrscher der Welt wäre. Dann ginge es allen an den Kragen, die jetzt gegen ihn wären. Albert schüttelte leicht den Kopf. Das klingt nicht gut. Wen meinte er damit? Na vor allem unseren Klassenvorstand, Müller, der ihn immer ziemlich piesackte. Müller ist nach wie vor der letzte unter allen Lehrern, die ich jemals hatte. Einer der Sorte, der seinen Grant und seinen Antipathie bei jedem Schüler auslebte Was aber nicht davon ablenken soll, dass Alex in der Tat sehr schwierig war. Ja, Ali, ich bin sogar überzeugt, dass er, wäre er nicht verunglückt, irgendwann gröbere Probleme bekommen hätte, weil er damals schon verhaltensauffällig war.
Das Bild von Alex tauchte vor meinem geistigen Auge auf. Der Herrscher der Welt. Albert kommentierte meine Gedanken nicht. Ich bin davon überzeugt, dass Müller einer der ersten gewesen wäre, die es zu spüren bekommen hätten, wenn Alex seinen Wunschtraum erfüllt hätte. Er war es halt auch gewohnt, durch seinen Vater alles zu bekommen, was er wollte außer dessen Zeit und Zuneigung. Und die Mutter war sich auch zu wichtig, sich näher mit dem Buben zu beschäftigen Ich gab beim Gehen einem Stein vor meinen Füßen einen Tritt, dass er zur Seite sprang. Sie hatte ja große Dame zu spielen. Der Bub konnte sich alles erlauben, musste nur mit seinem Bruder teilen. Und dabei ging es lediglich um materielle Dinge. Liebe oder Zuwendung haben die Buben nie bekommen. Dafür konnten sie es sich aber auch erlauben, mit dem Zweitwagen der Eltern heimlich in der Gegend herumzukurven. Und das schon mit 14 Jahren.
Steyregg rückte immer näher. Albert knöpfte seine Jacke auf, weil ihm warm geworden war. Und obwohl das jeder wusste, knüpfte ich an meine Erzählung an. hat es nie eine Anzeige gegeben. Alex verlachte in der Schule die Lehrer, die ihm mit der Gendarmerie drohten. Und das aus gutem Grund. Ihm konnte gar nichts passieren, Albert, nur seinen Eltern. Und wer wollte schon Verdruss mit einem angesehenen Unternehmer, ja dem Unternehmer unserer Region? Ich drehte mich zu meinem Freund um. Niemand, beantwortete ich meine rhetorische Frage selbst. Und so kurvte Alex weiter abwechselnd mit seinem Bruder durch unsere Gemeinde.
Fast im Gleichschritt marschierten Albert und ich weiter Richtung Steyregg. Albert verlor kein Wort. Er hörte nur aufmerksam zu. Ich war schon in der HAK, tauchte ich aus der Vergangenheit wieder ins 21. Jahrhundert ein. als ich von der Schule heimkam und meine Geschwister mir aufgeregt erzählten, dass Alex verunglückt war. Leicht alkoholisiert hatte er eben auf dieser Straße die Beherrschung über sein Fahrzeug verloren und ist mit dem BMW in eine alte Eiche dort hinten gekracht, die mittlerweile gefällt werden musste. Genickbruch, er war sofort tot. Ich war auf seinem Begräbnis. Ich erinnerte mich wieder intensiv, wie ich am Friedhof vor seinem Grab stand und später immer und immer wieder sein Totenbild betrachtete. Weißt du, ich war fassungslos gewesen, dass man so jung sterben kann. So jung.
Wir schwiegen eine Weile. Schauen wir wieder zu deinen Eltern zurück? Albert strich mir das Haar aus der Stirn. Nicht grübeln, Vivi, ja? Nicht grübeln, das Leben geht weiter. Immer wieder.
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