von Vivienne – Juni 2004
Erinnerungen…
Vor wenigen Wochen überraschte mich in meiner Wohnung ein Anruf: ein Klassentreffen stand wieder an, und diesmal unter einem besonderen Stern. Das 20jährige Maturajubiläum sollte zelebriert werden, und Margot, eine Schulkollegin, wollte wissen, ob ich kommen könnte, wollte, Klassentreffen waren über viele Jahre ein rotes Tuch für mich gewiesen, ich ließ das heuer schon das eine oder andere Mal in einer Geschichte anklingen, aber seit ich mich vor ein paar Jahren aufgerafft hatte, den inneren Schweinehund überwunden hatte, war ich auch in der Lage gewesen, meine Vorurteile abzubauen.
Warum auch nicht! dachte ich mir. Wird sicher lustig. Albert hatte spitzbübisch den Kopf geschüttelt, als ich ihm davon erzählt hatte, und ohne mich ausreden zu lassen, gemeint, er würde mich da sicher nicht begleiten, weil er sich fehl am Platz fühle. Ich verstand das – was hatte er auch mit den Leuten gemein, die mit mir die Schulbank gedrückt hatten und alle miteinander schon recht knapp unter Vierzig waren ! Ich musste schmunzeln bei dem Gedanken. Während Albert auf meiner Couch lag und sich interessiert den Michael-Douglas-Thriller frei nach Alfred Hitchcock zu Gemüte führte, hatte ich im Schlafzimmer in einer Schachtel zu kramen begonnen. Da war das Maturazeugnis, alles in allem gar nicht so schlecht, dafür, dass ich einmal knapp dran gewesen war, aufzugeben.
Mit teilweise heftigem Lachen musterte ich die Fotos: Klassenaufnahmen, Schnappschüsse von Wandertagen und Exkursionen. Gott, wie hatte ich einmal ausgesehen! Mein ganzes Leben möchte ich nie wieder 17 oder 18 sein, das wusste ich jetzt mit Gewissheit. Schließlich hielt ich das Maturafoto in der Hand, ich mit meiner ersten Dauerwelle und biederem Look Gott sei Dank hatte ich vor fast zwölf Jahren doch meine Haare schneiden lassen und von der 100%igen Verbesserung des Aussehens profitiere ich heute noch. Ich bin nun mal nicht der Typ für eine Löwenmähne, und irgendwann hatte das sogar ich begriffen
Verträumt blickte ich aus dem Fenster. Es war dunkel, aber das bemerkte ich gar nicht. Das Fenster öffnete sich nämlich und plötzlich war ich wieder die kleine, pummelige Vivienne, irgendwann vor vielen Jahren, die an einem Junimorgen um 5:00 Uhr früh nach nervöser Nacht aufstand, um sich ins letzte Gefecht zu werfen. Matura! Ich sah mir zu dabei, wie ich Zähne putzte und nach der Morgentoilette im Wohnzimmer eine Tasse Tee trank. Man sollte es fast nicht glauben kein Kaffee für Vivi an diesem wichtigen Tag. Diese Sucht gesellte sich erst viel später in mein Leben. Das Radio hatte ich eingeschaltet: Cyndie Lauper mit Girls just want to have Fun und die Dire Straits mit Far Away liefen im Ö3-Wecker.
An jenem Tag war es trüb und grau draußen. Bisweilen regnete es, nichts desto Trotz wollten meine Eltern ihren Entschluss das Schlafzimmer auszumalen auch durchführen. Ein eher verregneter Sommer, genauso wie heuer. Für das große Ereignis hatte ich mir einen neuen Rock, neue Schuhe und eine neue Bluse gekauft. Ich konnte mich genau erinnern und musste wieder schmunzeln. Meine Schuhe hatten hohe Stöckel und als ich mich auf den Weg zum Bahnhof machte, begannen sie schon nach wenigen Schritten furchtbar zu drücken. Als ich in den Zug einstieg, waren meine Fersen bereits blutig. Ruckedigu, Blut ist am Schuh
Ich biss die Zähne zusammen und versuchte nicht daran zu denken, wie sehr mich die Blasen schmerzten. Ich setze mich später in Linz im Linienbus gleich nieder, als ich meinen Namen hörte. Vivi! So eine Überraschung! Schicksalsgenosse Erich stand von weiter hinten auf und kam her zu mir. Erich war für die Matura in einen dunklen Anzug gekleidet und trug für mich unverständlich statt einer Krawatte ein Mascherl. Leicht irritiert fixierte ich nach der Begrüßung dieses Mascherl, traute mich aber nicht, etwas anzumerken. Ob Sie es glauben oder nicht, liebe Leser, Vivienne war einmal sehr schüchtern. Erich reagierte selber, nachdem ihm mein Blick nicht verborgen geblieben war. Weißt Vivi, ich hatte schon eine Krawatte um, aber dann hab ich mir den Kaffee aufs Hemd geschüttet und weil die Krawatte auch hinüber war, hab ich mich dann ans Mascherl gehalten.
Erich lächelte verschmitzt und wechselte danach das Thema. Die letzen Schritte vor der Schule kam uns schon Peppi entgegen, ein großer bulliger Typ, Marke Otti Fischer in Jugendtagen. Eigentlich hieß Peppi ja Harald, aber Petra, eine Kollegin, hatte ihn, als er zu unserer Klasse gestoßen war, immer Peppi genant, weil sie sich seinen Namen nicht merken hatte können. Seither war Harald der Peppi, daran ließ sich nichts mehr ändern. Wir maskierten unsere Nervosität mit banalen Gesprächsthemen und betraten schließlich gottergeben die Schule. Damals wurde das Gebäude umgebaut, fast überall nur Baustelle und wir mussten einen unglaublichen Umweg hinter uns bringen, bis wir in jenen Raum kamen, in dem wir uns auf die mündliche Matura vorbereiten konnten.
Peter, genannt Ami, erzählte schon lautstark, welche Überraschungen seine Eltern für ihn parat hätten, wenn er die Reifeprüfung erst abgelegt hatte. Mir war schon lange schlecht und als ich aufgerufen wurde um einen englischen Text vorzubereiten, wäre ich gern davongelaufen. Aber kein Grund dafür. Während ich Vokabel aus meinem Gedächtnis klaubte, sang Mark Knopfler weiter Far Away in meinem Gehörgang. Der Song ist zu meinem Maturalied geworden, untrennbar damit verbunden, und führte mich zu einem guten Start. Englisch lief also unerwartet gut. Geschichte war ohnehin wegen eines möglichen Durchfallens nie zur Debatte gestanden, in Mathematik unterlief mir ein blöder Fehler, wie schon bei der schriftlichen Matura, ich war aber nie gefährdet.
Ich wusste, ich hatte es geschafft, schon bevor uns Hemma, unser Klassenvorstand, bekannt gab, dass wir alle die Matura bestanden hatten. Alle bis auf Dutchie, den faulen Kerl, aber der auch nur, weil er eine Zusatzprüfung in Englisch gebraucht hatte, für die er aber nicht lernen hatte wollen. Ich hatte mein Ziel also endlich erreicht, und als ich das realisiert hatte, bemerkte ich wieder, wie sehr meine Fersen schmerzten. Eine Weile saßen wir noch beisammen, euphorisch, und quasselten laut. Was waren wir doch gut gewesen! Irgendwann löste ich mich von der Gruppe, die immer kleiner geworden war. Ami war von seinen Eltern mit riesigem Blumenstrauß abgeholt worden, ich selber humpelte mühselig zur Bushaltestelle. Es nieselte wieder leicht und der Himmel war voller Wolken.
Am Bahnhof suchte ich mir einen jener altmodischen Münzautomaten, die es heute gar nicht mehr gibt und wählte die Nummer meiner Eltern. Mein Vater hob ab. Ich hab bestanden! konnte ich meine Freunde fast nicht verhehlen. Schön, antwortete mein Vater fast emotionslos. Wir sind mit dem Schlafzimmer auch fast fertig. Wann kommst du? Kannst du mich abholen? jammerte ich kleinlaut. Meine Schuhe, ich bin ganz blutig an den Fersen! Na, wir werden sehen, ließ sich mein Vater nicht aus der Ruhe bringen. Wann, sagst du, kommt der Zug bei uns an?
Mein Vater holte mich tatsächlich vom Bahnhof ab. Und außerdem hatte er mir ein paar alte Schlapfen mitgebracht, damit ich meine Stöckelschuhe gleich ausziehen konnte. Es begann immer mehr zu regnen, und als wir daheim ankamen, war der Niederschlag in einen Landregen übergegangen, der fein aber beständig von oben kam. Im ganzen Haus roch es nach frischer Farbe Regen, Farbe, Erichs Mascherl und die Dire Straits meine ganz persönlichen Erinnerungen an meine Matura. Ich beobachtetet mich, wie ich meine Fersen mit Heftpflaster verklebte und wie mir meine Mutter das Mittagessen hinstellte, als das Bild plötzlich trüb wurde und das Fenster zuging.
Ich schreckte auf. Albert stand hinter mir und sein Blick zeigte Neugierde. Sag, was machst du da? Ich hob die Hände mit den Fotos. Schau, hab ich mir alles angesehen, eben jetzt. Ali konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Lass das, deine Kollegen siehst du ohnedies erst in ein paar Wochen. Er drohte mir spielerisch mit dem Zeigefinger und nahm mir die Bilder alle auf einmal weg, um sie in die Schachtel zurückzulegen. Aber ich bin da, hier und jetzt und verlange vollste Aufmerksamkeit! Ich musste lachen, wie er mich resolut bei der Hand nahm und mich wieder ins Wohnzimmer zog. Einen Moment gab ich mich noch einmal der Erinnerung hin. Zwanzig Jahre her, und es war mir fast so, als wäre es erst gestern gewesen, oder vor ein paar Wochen. Die Zeit ist schon etwas Merkwürdiges
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