von Vivienne – Mai 2004
Tschernobyl ein persönlicher Rückblick
Ich nehme an, die meisten der Bohnenzeitung-Leser haben sich Gedanken über unsere Umfrage zum Supergau des Jahres 1986 gemacht, auch wenn nicht alle ihre Meinung dazu mittels Voting abgegeben haben. Zu individuell verläuft die persönliche Auseinandersetzung, als dass fünf Wahlantworten ausreichen, um das wiederzugeben, was möglicherweise in einem vorging, an jenen Vorsommertagen Mitte der 80er Jahre. Meine Erinnerung an diese Zeit ist noch sehr präzise, wie ich allgemein immer schon auf ein gutes Gedächtnis bauen konnte. Und wenn ich zurückdenke, wie heuer am Jahrestag, dem 26. April, spüre ich noch immer das Entsetzen und die kalte Angst, die ich damals empfand.
Aber fangen wir von vorn an. Ich lebte gerade das zweite Jahr in Salzburg, ließ mich von Zeit zu Zeit daheim ansehen, war aber schon recht eigenständig mit der Mozartmetropole verhaftet. Die ersten Meldungen in Schweden war erhöhte Radioaktivität festgestellt worden, und die Skandinavier waren zuerst von einem hausgemachten Atomunfall ausgegangen hatten mich nicht im Mindesten beunruhigt. Schweden ist weit weg, und wie sollte ich auch mit meinem begrenzten Wissen davon ausgehen dürfen, dass sich die radioaktive Wolke direkt über ganz Europa verbreiten sollte?
Vieles wurde von den Medien und den offiziellen Stellen zuerst heruntergespielt. Eigentlich war am 1. Mai jenes Jahres die Konzentration der Radioaktivität schon so hoch, dass man die Feiern zum 1. Mai in Wien absagen hätte müssen. Man tat es nicht, um die Leute nicht zu beunruhigen, und setzte sie dadurch einem unnötigen Risiko aus, wie später kritisiert wurde. Endlich gab es auch die ersten genaueren Informationen in den Zeitungen und on-air. Radioaktives Jod war in der Luft, dazu Cäsium mit einer Halbwertszeit von 3000 Jahren! Nur zur Erinnerung: eine Halbwertszeit von 3000 Jahren bedeutet nichts anderes, als dass das radioaktive Element nach 3000 Jahren erst zur Hälfte abgebaut ist.
Nach Adam Riese sind dadurch die Schwammerl im Mühlviertel etwa noch die nächsten 10.000 Jahre ungenießbar. Ich gewohnte mir übrigens damals aus genau diesem Grund ab, Herrenpilze und Eierschwammerl zu essen. Aber die wenigsten Leute begriffen, was das eigentlich heißt. Halbwertszeit wer konnte, wer kann mit diesem Begriff schon etwas anfangen? Auch in meiner Familie kaum jemand – außer eben mir. Als das Ausmaß der Katastrophe nach und nach durchsickerte, ja, einfach nicht mehr verheimlicht werden konnte, griff ich in Salzburg in Panik und Sorge um meine Familie zum Telefon und rief daheim an.
So warnte ich meine Eltern vor der Milch vom Bauern, vor den Produkten aus dem eigenen Garten von den Salathäupteln über unsere Kirschen bis hin zur Petersilie und stieß auf taube Ohren. Meine Mutter erklärte mir, die Milch würde ohnehin abgekocht werden, das Gemüse werde gewaschen und das alles müsse doch genügen, oder? Meine Eltern sind keine dummen Leute, aber ich war nicht in der Lage ihnen zu vermitteln, dass Radioaktivität eine Gefahr, ja, eine Lebensbedrohung darstellt, der man mit Wasser oder durch Sterilisation keinesfalls Herr werden kann. Ich war am Verzweifeln und beschloss am kommenden Wochenende für eine Stippvisite heimzufahren. Meine Schwester Gitti war zudem auch noch schwanger, und ich wusste nicht mehr, an was ich zuerst denken sollte.
Die Sondersendungen, die damals abends statt dem längst vergessenen Treffpunkt Ö3 im Radio liefen, trugen nicht dazu bei, mich zu beruhigen, ganz im Gegenteil. Freunde von mir, die auf der Salzburger Uni studierten, wurden gar für einige Tage vom Gebäude des Salzburger Mozarteums ausgesperrt wegen der radioaktiv verseuchten Luftfilter, die ausgetauscht werden mussten. Nie zuvor sah ich mein Leben, meine Zukunft in einer vergleichbaren Art und Weise bedroht. Im Nachhinein erst wurde mir bewusst, dass ausgerechnet meine beiden Lebensräume am meisten durch die Radioaktivität beeinträchtigt worden waren: das Mühlviertel, meine Heimat, und Salzburg, die Stadt, die für einige Zeit mein neuer Lebensmittelpunkt geworden war.
Am Wochenende wich meine Panik nach und nach. Unser Bauer fütterte seine Kühe seit dem die Ausmaße des Supergaus bekannt geworden waren, nur mehr mit Silage und verzichtet schweren Herzens auf das Frischfutter. Ein gewaltiger Gewitterregen überschwemmte unseren Garten derart, dass man wohl nicht zu Unrecht davon ausgehen durfte, dass vor allem das kurzlebige Jod dadurch weitestgehend aus unserem Gemüse gespült worden war. Nach und nach konnte Entwarnung gegeben werden, die Konzentration der radioaktiven Elemente in der Luft ließ nach. Und meine Schwester brachte schließlich Ende September einen gesunden Buben zur Welt
Auch die furchtbaren Reportagen aus der damaligen UdSSR über die vielen Arbeiter, die einem grausamen Strahlentod ausgesetzt worden waren, damit der brüchige Reaktor gesichert werden konnte um eine noch ärgere Katastrophe zu verhindern, gerieten schön langsam in Vergessenheit. Berichte, wie über die hohe Anzahl an Berliner Babys mit Down Syndrom, die alle nach der Katastrophe gezeugt worden waren, wurden wohl ebenso schnell abgelegt wie jene über die mutierte Natur um den Reaktor, die nichts mehr mit der Pflanzen- und Tierwelt zuvor zu tun hat. Ich selber habe jedoch nicht vergessen, auch wenn ich zugegebenermaßen manches auch verdrängt habe
Meine Mitmenschen wegen meiner diesbezüglichen Bedenken zu warnen, habe ich mittlerweile aufgegeben, weil es einfach sinnlos ist. Man wird nämlich oft nicht ernst genommen, und dass weiterhin eine atomare Bombe in unsere Umwelt tickt, wollen viele nicht so Recht wahr haben. Wir sind noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen, darüber sollte sich jeder klar sein, aber dass Atomkraftwerke nicht mehr als beste Methode zur Energiegewinnung angesehen werden, dass die Grünbewegung seither an Bedeutung gewonnen hat, lässt sich andererseits auch nicht abstreiten.
Alles eine unmittelbare Folge des Supergaus. Die Aktionen gegen Temelin in den vergangenen Jahren, das durchaus nicht als sicheres Atomkraftwerk eingestuft werden kann, zeigen ebenfalls, dass nicht alle eine Vogel-Strauß-Politik betreiben sondern sich der Gefahr sehr wohl bewusst sind. Aber es sind noch zu wenige, viel zu wenige. Ein Supergau in Temelin könnte nämlich mit einem Schlag unserem bisherigen Leben und unserem gewohnten Komfort ein plötzliches Ende setzen
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