von Vivienne – Jänner 2005
Der Sandler
Verschiedenste Ereignisse können einen Mann aus dem Leben werfen, aus dem geraden Weg, der ihm vorgezeichnet scheint. Jobverlust, Scheidung, ein Schicksalsschlag wie der Verlust eines geliebten Menschen die Liste würde wohl endlos sein. Auch bei Fritz Gerlinger war es nicht anders. Gerlinger war unser bezirksbekannter Sandler, woher er genau kam, wusste niemand mehr so genau, aber vor mehr als zwanzig Jahren hatte er mit seiner Lebensgefährtin weiter unten bei uns im Dorf gewohnt. Elke, seine Freundin, war eine magere, kleine, bemitleidenswerte Person weil geistig zurückgeblieben, und die Leute hatten ihr grausam den Beinamen schöne Elke verpasst.
Gerlinger vermietete sie in Fällen von akutem Geldmangel gern an seine Trinkbrüder, die sie derb zu Sex zwangen, aber was tat sie nicht alles für ihren Fritz! Als ich so ein Teeenager war, verachtete ich diesen Mann, der Mülltonnen nach Essbarem wie nach brauchbaren Dingen durchwühlte, und das auch oft am helllichten Tag. Unrasiert, schmutzig und verwahrlost wie er aussah, fehlte mir jedes Mitgefühl mit ihm. Er hätte doch nur arbeiten gehen brauchen! Aber das tat er nur gelegenheitshalber, etwa bei der Müllabfuhr im Bezirk, am liebsten reparierte er schwarz, also unter der Hand, Mopeds, Fahrräder und bisweilen auch Autos. Wer machte sich schon Gedanken darüber, dass er einmal ein tüchtiger Mechaniker gewesen war!
Wer gar darüber, warum er überhaupt abgestürzt war ein Trinker, der, wie es hinter der Hand immer wieder hieß, bisweilen auch vor kleinen Diebstählen nicht zurückschreckte. Anzeigen gab es selten, es brachte ja auch wenig, und es schien den Leuten in der Siedlung einfach zielführender, die Türen abzusperren und nichts Wichtiges über Nacht draußen im Garten stehen zu lassen Hat man ihm je geholfen oder zu helfen versucht? Ich weiß es nicht, es war mir damals auch egal, wenn ich ehrlich bin. Mich ekelte vor einem Mann, der sich zum Zuhälter seiner Freundin, der armen Elke, degradierte. Erst Jahre später, ich wohnte längst in Linz, habe ich einmal von meinem Vater die wahre Geschichte von Fitz Gerlinger erfahren, aber auch wieder vergessen, bis ich vor einiger Zeit einmal mit meinem Bruder Claudio telefonierte.
Claudio kommt durch seinen Job im Vertrieb einer großen Tageszeitung viel herum, und wir plauderten im Grunde nur wegen der Daviscupauslosung der Herrn, als Claudio in einem Nebensatz erwähnte: Du, der Gerlinger Fritz ist tot! Gerlinger wer? Im ersten Moment musste ich nachdenken Na, der Sandler! Weißt nimmer? Claudio amüsierte sich über mich und mein unfehlbares Gedächtnis. Richtig. Der war doch noch gar nicht so alt? Was ist passiert? Claudio, eine Sportskanone sondergleichen, ließ tatsächlich für ein paar Momente sein Lieblingsthema Tennis links liegen, und bequemte sich zu einer Antwort. An einer Gehirnblutung. Er ist im Suff gestürzt Was? Nicht dass mich der Tod dieses Sandlers sehr überraschte und schon gar nicht die Art und Weise, aber da fehlte mir doch Fakten. Liegen geblieben und nicht mehr aufgestanden? Bei dem Regen seit einer Woche?
Nein! widersprach Claudio etwas ungehalten, weil ihn das Thema nicht wirklich interessierte. Für ihn gab es schließlich nur eines, Sport, Sport, Sport! Ich weiß nicht, ob du weißt, dass sie ihn vor einigen Jahren in die Bezirkshauptstadt verfrachtet haben, wo er in einer Art Wohnheim ein Zimmer hatte. Die Elke haben sie ihm übrigens weggenommen, die lebt jetzt ganz woanders und neulich Abend muss er gestürzt sein, als er gegen Morgen von einer Sauftour heimkam. In der Früh hat er gleich beim Arzt geklingelt und geschrieen, er soll ihm helfen, weil er solche Kopfschmerzen habe. Stell dir das vor! Claudio machte eine Pause. gestunken hat er nach Schnaps, dreckig war er und ganz nass vom Regen, reden hat er fast nicht können. Der Arzt hat ihm gesagt, er soll zuerst seinen Rausch ausschlafen und hat ihn dann rausgeworfen.
Und? Dass Claudio aber auch nie zum Punkt kommen konnte! Claudio suchte nach Worten Naja, er muss dann doch ins Wohnheim gegangen sein und sich niedergelegt haben, irgendwann gegen 8:00 Uhr früh. Als er am Abend noch immer nicht aus seinem Zimmer gekommen ist, haben ein paar Kumpane von ihm nachgesehen. Da war er schon eine Weile tot. Eine Obduktion wurde gemacht – der Gerlinger hatte anscheinend eine Gehirnblutung nach dem Sturz. Ich war baff. Der Arzt hat ihn einfach weggeschickt? Was hätte er tun sollen? widersprach Claudio. Der Kerl war betrunken, und in den Kopf vom Gerlinger konnte er nicht reinsehen Ich hatte mittlerweile keine Lust mehr über Tennis zu reden. Nein, nicht mehr wirklich.
Fritz Gerlinger war irgendwann vor langer Zeit verheiratet gewesen, und hatte zwei oder drei Kinder gehabt. Er arbeitete in einer kleinen Werkstatt im Bezirk und das geschickt und verlässlich. Sein Dilemma hatte mit der Scheidung begonnen, die Alimente für Frau und Kinder ließen ihm nur mehr wenig Geld zum Leben. Irgendwer, so die Erzählung meines Vaters, riet ihm dann, mit der Arbeit aufzuhören, weil er ohnedies nur mehr für die Gschroppen arbeiten würde Ein schlechter Rat. Statt wenigstens zu versuchen, sich mit seiner Ex-Frau zu arrangieren oder finanzielle Unterstützung zu suchen, war er den vermeintlich bequemen Weg gegangen. Saß in der Freizeit nur mehr im Wirtshaus und sank in ein Milieu ab, in dem er jedes Gefühl dafür verlor, wie er da wieder rauskommen könnte.
Stumpfte ab, verlor alle Skrupel, wie man am Beispiel seiner Freundin sehen konnte. Und begann immer mehr zu trinken. Kein Playdoyer für einen Sandler, ein Playdoyer für einen Menschen, der nicht die Kraft hatte, seinen Weg noch mal zu ändern. Der sich treiben ließ. Die eine oder andere Form der Hilfe wird man ihm wohl angeboten haben, und es stimmt traurig, dass er sie letztlich nicht nützte oder verkannte. Schlimmer ist, dass man einen Menschen verachtete, der gestrauchelt war und der nicht mehr aufstehen konnte. Und seine Familie? Die wird sich wohl nicht um ihn geschert haben. Man hat ihn verachtet oder sich geschämt für ihn. Ich weiß nicht, ob man ihn noch retten hätte können nach diesem Sturz, aber probiert hat es auch niemand Wie hätte der Arzt wohl bei einem angesehenen Bürger reagiert?
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