von Vivienne – Februar 2005
Die Bankomatkarte
War das eine lange Nacht gewesen! Ich konnte mich in der Früh kaum bewegen und der Kopf tat mir weh. Was aber weniger exzessivem Alkoholgenuss als dem Kreislauf zuzuschreiben war. In der Nacht war nämlich auch der Winter eingekehrt und aus diesem Grund wurde mir schwarz vor den Augen, wann immer ich mich bemühte, mich aus dem Bett zu bewegen. Ali ging es nicht viel besser. Immerhin stellte er aber fest, dass es schon nach sechs Uhr war und wir unbedingt aus den Federn mussten. Viv, bitte! Ich mach dir einen starken Kaffee, aber bitte geh ins Bad! Wie willst du heute in die Arbeit kommen? Gar nicht! dachte ich mir müde, aber irgendwie schaffte ich die zehn Schritte bis unter die Dusche und das heiße Wasser tat mir gut.
Zehn Minuten später servierte mir mein Freund den heißen Kaffee und verschwand seinerseits im Bad. Immerhin wurde ich wacher, aber mir war trotzdem weiter sehr schwindlig. Der Anblick des Schneechaos draußen auf den Straßen und die tiefen Temperaturen setzen mir psychologisch zu. Aber Ali beruhigte mich. In der Hausapotheke sind noch Kreislauftropfen. Und ich nehme dir heute Mittag welche mit, ja? Für mich ist es weniger umständlich! Fürsorglich war er ja, mein Ali, also fügte ich mich in mein Schicksal. Und füllte ein zweites Mal meine Tasse bis zum Rand mit heißem Kaffee. Ganz schwarz das hieß etwas für meine Verhältnisse.
In der Arbeit hielten mich die Kolleginnen für ein Faschingopfer. Es nutzte wenig zu beteuern, dass ich mir keiner Schuld bewusst war und wir, Ali und ich, uns genau genommen nur im Kino einen Film angesehen hatten. Und die Kürze der Nacht eigentlich einem plötzlichen Liebeshunger Alis entsprungen war, der uns die Zeit vergessen hatte lassen. Aber es war mir egal. Ich trank viel Wasser, lüftete ständig im Büro und tatsächlich ging dieser Arbeitstag relativ unbeschadet an mir vorüber. Etwas irritierte mich aber – ein Anruf Alis irgendwann am Nachmittag. Ich bemerkte ihn erst spät, weil das Handy auf lautlos war, aber merkwürdigerweise hatte er auch keine Nachricht auf der Mailbox hinlassen.
Als ich heimkam, standen die Kreislauftropfen mitten auf dem Tisch. Ali werkte in der Küche und ich war erstaunt. Heute schon daheim? Ali kam mit der Kaffeekanne zurück. Er küsste mich zur Begrüßung und setzte sich dann an den Tisch. Meine Bankomatkarte ist weg! sagte er ohne jede Vorbereitung. Ich blickte ihn erstaunt an. Einfach so? Ali zuckte die Achseln. Ich weiß es nicht! Gestern hatte ich sie noch. Ich habe die Karten im Kino damit bezahlt, erinnerst du dich, und zuvor auch den Einkauf bei H & M. Ich bin alles minutiös durchgegangen. Im Kino habe ich die Karte definitiv das letzte Mal gehabt. Ratlos hob ich die Augenbrauen. Du hast die Karte aber schon sperren lassen? Ali nickte. Selbstverständlich. Auch wenn mir der Bankbeamte versichert hat, normalerweise könne nichts passieren, weil niemand den Code haben kann. Die letzte Abbuchung war auch nachweislich gestern im Kino.
Gott sei Dank! Ich nippte von meinem Kaffee. Wann hast du es denn bemerkt? Heute Mittag! In der Apotheke! War ganz schön peinlich, weil die Karte weg war und ich kein Geld in der Tasche hatte. Aber zehn Minuten später war ich auf der Bank und holte mir was. Im Grunde auch kein Malheur, außer den 36 Euro, die das Sperren der Karte kostet. Aber das ärgert mich trotzdem Ali blickte mich nachdenklich an. dass mir so was passiert Ich stellte die Tasse wieder hin. Jetzt hör aber auf, mein Herz! Du bist ja nicht Gott, oder? So was kann jedem passieren. Komm, trink aus, und dann schauen wir mal, wo die Karte sein kann. Hast du schon im Kino angerufen?
Ali hatte nicht. Also griff ich zum Telefon aber die Antwort war nein: keine Bankomatkarte war abgegeben worden. Auch im Restaurant war dem Personal nichts aufgefallen. Ganz verstand ich es selber nicht, dass sich die Karte scheinbar in Luft aufgelöst hatte, da es nicht einmal Versuche gab, etwas mit der Karte abzuheben. Aber auch in unserer Wohnung war sie nicht aufzufinden: nicht in der Jacke, nicht in der Hose, nicht in der Tasche. Merkwürdig, aber Ali hatte sich damit abgefunden. Ich krieg nächste Woche ohnedies eine neue Karte. Ich habe sie schon angefordert. Auch wenn ich schwören könnte, sie taucht wieder auf ich kann nicht so lange warten, bis sie es tatsächlich tut Ali zuckte die Achseln und wechselte das Thema. Ich wusste, dass es ihn wurmte, weil er bei vielen Dingen so penibel war, aber damit machte er sich bisweilen selber unnötig das Leben schwer.
Drei Wochen später fuhren wir von einem Wochenendeinkauf nach Hause. Unglückseligerweise platzte uns aber beim Ausladen der Karton mit dem Reis. Der ganze Inhalt ergoss sich über den Beifahrersitz. Albert seufzte vernehmlich auf. Ich schickte ihn mit der Schachtel mit dem Einkauf in die Wohnung. Ich komme gleich, ich saug alles mit dem Akku-Sauger auf! Ich öffnete den Kofferraum und der Akku des Saugers war tatsächlich fast voll. Surrend arbeitete das Gerät und zufrieden registrierte ich, wie Korn um Korn vernichtet wurde. Schließlich hob ich den Autoteppich um noch darunter zu saugen. Beinahe hätte ich aufgeschrieen. Da lag Alis Bankoamtkarte. Und plötzlich fiel mir ein, was wir neulich Nacht noch im Auto herumgealbert hatten.
Wir hatten uns gegenseitig alte Fotos vom Ausweis bis zum Führerschein gezeigt und dabei musste die Bankomatkarte aus Alis Geldbörse gerutscht sein, ohne dass es uns aufgefallen war. Alis Ahnung hatte ihn also nicht getrogen, aber jetzt war es auch egal. Er hatte seine neue Karte mit neuem Code, mehr als ein Andenken war diese hier nicht mehr. Aber Ali würde jedenfalls schön schauen, wenn ich sie ihm jetzt präsentieren würde. Ich schmunzelte leicht boshaft und legte den Teppich sorgfältig wieder ins Auto zurück.
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